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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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Küssen.
    »Laß mich!« bat sie. »Ich will vernünftig mit dir sprechen ... Jetzt, wo ich bei dir bin, entschwinden mir alle meine Pflichten. Ich bin nichts als Liebe zu dir ... Ach, das Wort Liebe ist viel zu schwach ... Ich fühle für dich, was ich einzig und allein für Gott fühlen dürfte: ein Gemisch von Anbetung, Inbrunst und Selbstvergessenheit ... Ach, was weiß ich, zu was sonst noch du mich begeisterst? Wenn du mir sagtest, ich solle den Gefängniswärter erdolchen: ehe es mir voll bewußt würde, wäre die schreckliche Tat geschehn. Kannst du mir nicht erklären, was das ist? Ehe ich von dir gehe, möchte ich mein eignes Herz kennen. In acht Wochen müssen wir voneinander scheiden ... Sag, werden wir wirklich voneinander gehn?«
    Sie lächelte bei den letzten Worten.
    »Ich nehme mein Wort zurück!« rief Julian aufspringend. »Ich lege keine Berufung gegen das Todesurteil ein, wenn du etwa vorhast, durch Gift, durch eine Kugel, durch ein Messer, durch Kohlengas oder sonstwie deinem Leben ein Ende zu setzen!«
    Frau von Rênals Gesichtsausdruck änderte sich mit einem Male. An Stelle inniger Zärtlichkeit trat tiefe Versonnenheit.
    »Wollen wir nicht zusammen in dieser Stunde sterben?« fragte sie leise.
    »Wer weiß, was wir im Jenseits finden!« erwiderte Julian. »Wahrscheinlich nichts. Wollen wir da nicht lieber noch zwei köstliche Monate miteinander verleben? Acht Wochen, das ist eine lange Frist! Es soll die glücklichste Zeit meines Lebens werden!«
    »Die glücklichste Zeit deines Lebens?«
    »Gewiß! Ich spreche zu dir wie zu mir selbst, offen und ehrlich, ohne Übertreibung.«
    »Das heißt, du verlangst von mir, daß ich ebenso spreche«, sagte sie, scheu und trübsinnig lächelnd.
    »Ja! Schwöre bei deiner Liebe zu mir, daß du dir weder mittelbar noch unmittelbar ein Leid antun wirst! Du mußt leben! Schon um meines Sohnes willen! Mathilde wird ihn den Dienstboten überlassen, sobald sie Frau von Croisenois ist...«
    »Ich schwöre es«, sagte sie tonlos. »Aber ich will deine Berufung von dir unterzeichnet mitnehmen. Ich werde sie dem Oberstaatsanwalt persönlich überreichen...«
    »Nimm dich in acht! Du kompromittierst dich!«
    »Nachdem ich so weit gegangen bin, dich in deiner Gefängniszelle zu besuchen, bin ich für die ganze Freigrafschaft mein lebelang eine Romanheldin...« Und schmerzlich bewegt fuhr sie fort: »Ich habe meinen guten Ruf verloren ... ich bin ein ehrvergessenes Weib ... gewiß, aber dir zuliebe!«
    Der Klang ihrer Worte war so traurig, daß ihr Julian im Gefühl eines völlig neuen Glückes um den Hals fiel. Es war nicht mehr Liebesrausch, sondern innige Dankbarkeit. Zum ersten Male ward ihm das Opfer, das sie ihm gebracht, in seiner vollen Größe klar.
    Höchstwahrscheinlich fand sich eine barmherzige Seele, die Herrn von Rênal von den langen Besuchen seiner Frau im Gefängnis unterrichtete; denn drei Tage später schickte er ihr seinen Wagen mit dem ausdrücklichen Befehl, sofort nach Verrières zurückzukommen.

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Vierundvierzigstes Kapitel
    M it dieser grausamen Trennung hatte der Tag für Julian übel begonnen. Zwei, drei Stunden später teilte man ihm mit, ein Geistlicher warte seit frühmorgens vor dem Gefängnistor auf der Straße. Es war ein stadtbekannter Ränkeschmied, der es trotz aller Bemühung unter den Jesuiten von Besançon zu nichts gebracht hatte. Es regnete tüchtig, und der Mann benutzte die Gelegenheit, sich zum Märtyrer aufzuspielen. Julian, der sowieso verstimmt war, ärgerte sich über diesen Unfug maßlos. Bereits am Morgen hatte er den Besuch des Narren abgewiesen; der aber hatte es sich in den Kopf gesetzt, Julian die Beichte abzunehmen, um sich dann unter den Betschwestern der Stadt mit angeblichen Geständnissen brüsten zu können. Er erklärte, er werde Tag und Nacht vor dem Tore des Gefängnisses verbleiben. »Gott schickt mich«, rief er mit lärmiger Stimme, »ich soll das Herz dieses Abtrünnigen erweichen!«
    Schon begann sich das gemeine Volk, wie immer begierig nach Auftritten, anzusammeln. »Ja, geliebte Brüder«, predigte er, »hier werde ich den Tag und die Nacht und alle folgenden Tage und Nächte warten. Der Heilige Geist hat zu mir gesprochen. Ich bin vom Himmel auserkoren. Es ist meine Sendung, die Seele des jungen Sorel zu retten. Betet allesamt mit mir!«
    Julian hatte Abscheu vor einem Skandal, überhaupt vor allem, was die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn ziehen konnte. Schon dachte er daran, im

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