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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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problematische Natur.
    Wäre Frau von Rênal hier in meiner Zelle, und nicht Mathilde, wer weiß, ob ich meiner sicher bliebe? Alles kann man sich aneignen, Wissen, Gewandtheit, nur den Mut nicht. Mut kann man nicht lernen. Selbst neben Mathilde nicht, die jetzt weint oder vielmehr bereits nicht mehr weinen kann.« Er sah ihr in die geröteten Augen – und schloß sie in seine Arme. Im Anblick ihres aufrichtigen Schmerzes vergaß er seine Vernünftelei. »Vielleicht hat sie die ganze Nacht geweint«, dachte er bei sich, »aber eines Tages wird sie sich der Erinnerung daran schämen. Sie wird sich vorwerfen, als junges Mädchen von der niedrigen Denkart eines Plebejers angesteckt worden zu sein ...
    Croisenois, der Schwächling, wird sie heiraten. Warum auch nicht? Es ist nur zu seinem Vorteil. Mathilde wird ihm eine Rolle zu spielen geben, denn: Der starke Geist beherrscht die Alltagsseelen ...
    Merkwürdig, angesichts des Todes fallen mir alle Verse wieder ein, die sich mir im Laufe des Lebens eingeprägt haben! Das ist wohl ein Zeichen des Verfalls?«
    Bereits zum zweiten Male sagte Mathilde zu ihm mit erstickter Stimme: »Er wartet nebenan!« Endlich schenkte Julian ihren Worten Gehör. »Ihre Stimme ist schwach«, stellte er bei sich fest, »aber im Klang verrät sich ihre Herrennatur doch. Sie dämpft die Stimme, um nicht in Zorn auszubrechen...«
    »Wer wartet?« fragte er in sanftem Tone.
    »Dein Anwalt! Er möchte, daß du die Berufung unterschreibst.«
    »Ich verzichte darauf«, erklärte Julian.
    »Was? Du verzichtest auf die Berufung?« rief sie. Ihre Augen funkelten vor Zorn. »Und darf ich fragen, aus welchem Grunde?«
    »Weil ich mich zur Zeit mutig fühle zu sterben, ohne Anlaß zu geben, daß sich die andern über mich lustig machen. Wer steht mir dafür, daß ich nach acht langen Wochen in diesem feuchten Loche noch in so guter Verfassung bin? Schon sehe ich im Geiste, wie die Pfaffen kommen, mein Vater, und wer weiß wer noch ... Nichts in der Welt wäre mir widerlicher. Ich will sterben.«
    Julians unerwarteter Widerstand erweckte Mathildens ganzen Hochmut von neuem. Sie hatte den Großvikar von Frilair so früh nicht aufsuchen können. So ward Julian die erste Beute ihrer Wut. Sie vergötterte ihn. Aber in dieser Stunde verwünschte sie seinen Charakter und bedauerte, ihn geliebt zu haben. Das war so recht wieder das hochmütige Wesen, das ihn damals in der Bibliothek des Hauses La Mole mit Schmähungen überschüttet hatte!
    »Zum Ruhme deiner Familie hätte dich das Schicksal als Mann auf die Welt kommen lassen müssen!« sagte er. Bei sich dachte er: »Ich wäre schön dumm, wenn ich acht weitere Wochen an diesem greulichen Ort verbliebe, als Opfer der niederträchtigen Demütigungen der besitzenden Klasse...« Hier regte sich der Jakobiner in ihm. »Dazu als einzige Zerstreuung die Vorwürfe dieser Närrin. Fällt mir nicht ein! Übermorgen trete ich zum Duell an mit dem Manne, der ob seiner Kaltblütigkeit und seiner Riesengeschicklichkeit berühmt ist ...« Mephisto sprach in ihm. »... Ja, hochberühmt ..., mit dem Manne, der nie danebenhaut. Und dabei bleibt es!«
    Mathilde entwickelte all ihre Beredsamkeit.
    »Himmel und Hölle!« schwor er bei sich. »Ich lege keine Berufung ein!«
    Nach diesem Entschluß verlor er sich in Träumerei. »Früh um sechs wird der Briefträger wie alle Tage die Zeitung bringen, und um acht Uhr, wenn Herr von Rênal fertig mit Lesen ist, wird Jungfer Elise auf den Fußspitzen in ihr Zimmer kommen und ihr das Blatt aufs Bett legen. Nach einer Weile wird sie erwachen und beim Lesen totenblaß werden. Und sie wird lesen bis zu den Worten: Um zehn Uhr und soundso viel Minuten war es um ihn geschehen  ... Da wird sie heiße Tränen vergießen. Ich kenne sie. Wenn ich sie auch habe ermorden wollen: alles wird vergeben und vergessen sein! Und der Mensch, dem ich das Leben rauben wollte, der wird der einzige sein, der meinen Tod aufrichtig beweint ... Welch ein Widerspruch!«
    Während Mathilde in einem fort weiterredete, träumte Julian eine volle Viertelstunde immer nur von Frau von Rênal. Willenlos und obwohl er Mathilden hin und wieder auf ihre Worte mechanisch antwortete, vermochte er seine Gedanken nicht aus dem Schlafzimmer der Frau von Rênal zu Verrières zurückzurufen. Deutlich sah er die Besançoner Zeitung auf der orangegelben seidnen Steppdecke liegen. Er sah, wie die weißen Hände das Blatt krampfhaft zerknitterten. Er sah, wie Frau von

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