Rot und Schwarz
weiter. »Zu nichts denn zum Selbstkult, zum ärgsten Protestantismus! Wenn diesem bedenklichen Wissen wenigstens kirchengeschichtliche und dogmatische Kenntnisse die Waagschale hielten!«
Den Höhepunkt aber erreichte des Direktors Erstaunen, als er Julian über die Autorität des Papstes examinierte. Er erwartete die Grundlehren der gallikanischen Kirche zu Gehör zu bekommen. Statt dessen sagte ihm der Prüfling das halbe Papstbuch von de Maistre her.
»Ein sonderbarer Kauz, dieser Chélan!« sagte sich der Abbé im stillen. »Hat er ihm dieses Buch in die Hände gegeben, um ihn zum Spötter hierüber zu machen?«
Die Fragen, die er stellte, um herauszubekommen, ob Julian wirklich an die Doktrin de Maistres glaubte, blieben erfolglos. Was der junge Mann gesagt, war offenbar nur gedächtnismäßig gewesen.
Julian war inzwischen wieder in den Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte gelangt. Er fühlte, daß er wieder Herr seiner selbst war. Als die langwierige Prüfung ihr Ende fand, hatte er den Eindruck, als sei die Strenge des Herrn Seminardirektors gegen ihn kaum mehr echt. In der Tat, hätte Pirard nicht seit fünfzehn Jahren seinen Schülern gegenüber höchste Gemessenheit als unbedingt nötig erachtet, so hätte er den Neuling im Namen der Logik an sein Herz gedrückt. Die Klarheit und Knappheit seiner Antworten hatten ihn entzückt.
»Ein gesunder und kühner Geist!« dachte er bei sich. »Allerdings:
Corpus debile
, (Leiblich schwach.)«
»Fallen Sie öfters so hin?« fragte er auf französisch und wies mit der Hand nach der Diele.
»Es war das erstemal in meinem Leben«, entgegnete Julian. »Ich war über das Gesicht des Pförtners so erschrocken.«
Der Abbé Pirard lächelte unmerklich.
»Aha! Die Suggestion des weltlichen Getues!« meinte er. »Sie sind an lachende Gesichter gewöhnt. Aber das sind Masken der Lüge. Die Wahrheit ist ernst, mein Lieber. Und ist unser Beruf hienieden nicht auch ernst? Sie müssen sich bemühen, jener Schwäche Herr zu werden. Sie sind zu empfänglich für das eitle Äußerliche!«
Im weiteren ging er mit sichtlichem Vergnügen abermals zu lateinischer Rede über. »Wenn Sie mir nicht durch einen Mann von der Art des Pfarrers Chélan empfohlen wären, würde ich mit Ihnen in der Sprache der profanen Menschheit sprechen, an die Sie allzusehr gewöhnt sind. Eine volle Freistelle im Seminar, die Sie haben möchten, wird nur höchst selten gewährt. Aber der Pfarrer Chélan, ein Mann, der sechsundfünfzig Jahre apostolischer Arbeit gewidmet hat, verfügt selbstverständlich über eine volle Freistelle.«
Sodann warnte der Abbé Pirard den nunmehrigen Seminaristen, ohne seine Genehmigung in eine Kongregation oder sonst welche geheime Gesellschaft einzutreten.
»Ich gebe Euer Hochehrwürden mein Ehrenwort«, versicherte Julian, in der Offenherzigkeit des Ehrenmannes.
Der Seminardirektor lächelte zum ersten Male deutlich.
»Ihr Ehrenwort? Das gibt es hier nicht«, sagte er. »Das ist etwas allzu Weltliches. Die selbstgefällige Ehre der Weltkinder führt zu so vielen Sünden und oft gar zu Verbrechen. Sie schulden mir Gehorsam nach Punkt 17 der päpstlichen Bulle
Unam ecclesiam
Seiner Heiligkeit Pius des Fünften. Ich bin Ihr geistlicher Vorgesetzter. In diesem Haus, mein Heber Sohn, ist Befehl und Gehorsam eins ... Wieviel Geld besitzen Sie übrigens?«
»Aha!« dachte Julian. »Hab ich's nicht gleich gesagt!« Laut erwiderte er: »Fünfunddreißig Franken, Euer Hochehrwürden!«
»Führen Sie genau Buch über Ihr Geld!« mahnte der Abbé. »Das ist Ihre Pflicht.«
Dieses hochnotpeinliche Verhör hatte insgesamt drei Stunden gedauert. Julian mußte schließlich den Pförtner holen.
»Führen Sie Julian Sorel nach Zelle 103!« befahl der Direktor dem Manne. Es war eine besondere Auszeichnung, eine Stube für sich allein zu bekommen. »Bringen Sie ihm auch seinen Koffer!«
Julian blickte verlegen zu Boden, just auf seinen kleinen Rucksack, der dort lag. In den eben vergangenen drei Stunden hatte er ihn gänzlich vergessen. Er war ihm etwas Fremdes geworden.
Als er in Nummer 103 ankam, einem Stübchen im obersten Stocke von kaum drei Meter im Geviert, bemerkte er, daß das Fenster nach dem Wall hinausging. Darüber hinweg blickte er in die lachende Ebene zwischen der Stadt und dem Doubs.
»Welch wunderschöne Aussicht!« rief Julian aus, doch ohne eigentlich zu empfinden, was er in diese Worte faßte. Die starken Eindrücke, die ihm in der
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