Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
Vom Netzwerk:
Herrlichkeiten des Seminars entzückt. Es geht ihnen wie den römischen Soldaten, denen der Krieg eine Erholung war.«
    In ihren stupiden Augen las Julian nichts als: vor den Mahlzeiten hungrige Leibesbedürfnisse, und nach den Mahlzeiten befriedigte Leibesbedürfnisse. Unter solch einer Gesellschaft mußte er sich also hervortun! »Kinderspiel!« dachte er. Eines wußte er aber nicht, und man hütete sich wohl, es ihm zu verraten: der Erste zu sein in der Dogmatik, der Kirchengeschichte und gewissen andern Unterrichtsfächern, galt allgemein als kolossale Sünde . Seit Voltaire und der Erfindung des konstitutionellen Staates, der im Grunde nichts weiter ist als Zweifel und Selbstkult , ist die schlechte Angewohnheit des Einander-Mißtrauens den Massen in Fleisch und Blut übergegangen. Seitdem hat die Kirche aber offenbar begriffen, daß die Literatur ihre tüchtigste Feindin ist.
    Im Seminar galt die Demut des Herzens über alles. Fortschritte in den Wissenschaften, selbst in der Theologie, hielt man mit gutem Grunde für verdächtig. Wer kann einen
homme supérieur
hindern, ins feindliche Lager abzuschwenken wie die Abbés Sieyès und Grégoire? Die um ihre Existenz bangende Kirche klammert sich an das Papsttum wie an den letzten Notanker. Lediglich der Papst kann den Versuch machen, die Zweifelsucht im modernen Menschen zu bannen, indem er die seelisch müden und kranken Weltkinder mit dem frommen Pomp des römischen Kults fasziniert.
    Diese und ähnliche Erkenntnisse, zu denen alles, was im Seminar offiziell gesagt ward, im Widerspruche stand, gingen Julian allmählich auf und drückten ihn in tiefe Schwermut. Er war sehr fleißig, und er eignete sich mit Leichtigkeit eine Menge Dinge an, die für einen Geistlichen sehr nützlich sind, wiewohl sie ihn insgeheim unwahr und unrichtig dünkten und ihn im Ureigensten gar nicht ergriffen. Er glaubte, nichts andres tun zu dürfen.
    Er hielt sich für völlig vergessen von der Welt, in der er ehedem gelebt, wußte er doch nicht, daß der Seminardirektor mehrere Briefe mit dem Poststempel Dijon erhalten und ins Feuer geworfen hatte, Briefe, die bei aller Gemessenheit in der Form die wildeste Leidenschaft der mit einem einzigen Buchstaben unterzeichneten Absenderin verrieten. Unverkennbar war ihre Reue so groß wie ihre Liebe. »Gott sei Dank«, dachte Pirard, »es war wenigstens keine Gottlose, die der junge Mann geliebt hat!«
    Eines Tages kam wiederum ein Brief, dessen Schriftzüge sichtlich von Tränen halbverwischt waren. Es war ein Lebewohl für immer. »Endlich« – hieß es darin – »schenkt mir der Himmel Gnade, die Gnade des Hasses, nicht gegen den Urheber meiner Sünde, denn der wird mir stets das Liebste auf Erden bleiben, aber gegen meine Sünde selbst. Das Opfer ist vollbracht, nicht ohne Tränen, wie Du siehst. Das Wohl derer, für die ich weiterleben muß, und die auch Du so geliebt hast, siegt über meine Sehnsucht. Der gerechte, aber strenge Gott kann die Verfehlungen ihrer Mutter nicht mehr an ihnen rächen. Lebe wohl, Julian! Sei gerecht gegen die Menschen!«
    Der Schluß des Briefes war beinahe unleserlich. In der Nachschrift stand eine Adresse in Dijon. Jedoch hoffe die Schreiberin, daß sie keine Antwort erhalte oder nur eine, die eine zur Tugend zurückgekehrte Frau ohne Scham lesen könne.
    Julian erhielt auch diesen Brief nicht.
    Seine Melancholie verschlimmerte sich durch die mäßige Kost im Seminar, die ein Pachtwirt für dreiundachtzig Centime den Tag lieferte. Seine Gesundheit begann zu verfallen. Da erschien eines Morgens sein alter Freund Fouqué in seiner Zelle.
    »Endlich hat man mich hereingelassen«, sagte er. »Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, aber ich bin schon fünfmal nach Besançon gekommen, um dich zu besuchen. Von Einlaß keine Rede. Vergeblich habe ich einen Posten vor dem Seminar aufgestellt. Zum Kuckuck, warum gehst du nie aus?«
    »Weil ich mir als Probe auferlegt habe, es nicht zu tun.«
    »Ich finde dich sehr verändert. Habe dich lange nicht gesehen. Diesmal haben mir zwei blanke Taler das Tor geöffnet. Ich Esel hätte dieses Mittel gleich beim erstenmal anwenden sollen!«
    Sie unterhielten sich über tausend Dinge. Mit einemmal ward Julian verlegen, als Fouqué harmlos berichtete: »Übrigens, weißt du schon, die Mutter deiner Zöglinge ist überfromm geworden?«
    Julian hatte das eigentümliche Gefühl, das glühenden Seelen widerfährt, wenn jemand ahnungslos an ihr Heiligtum rührt.
    »Ja, ja, mein

Weitere Kostenlose Bücher