Rot und Schwarz
Lieber«, erzählte der Freund weiter. »Toll fromm ist sie geworden. Man sagt, sie mache Wallfahrten. Nur vom Abbé Maslon, der dem armen alten Chélan immer nachspioniert hat, will sie zu seiner unauslöschlichen Schande nichts wissen. Sie geht nach Dijon oder Besançon zur Beichte ...«
»Nach Besançon geht sie?« unterbrach ihn Julian, dunkelrot werdend.
»Ziemlich häufig«, erwiderte Fouqué.
Er wurde stutzig.
»Hast du ein paar Nummern vom
Constitutionnel
bei dir?«
»Was sagst du?«
»Ich frage dich, ob du ein paar
Constitutionnels
bei dir hast?« wiederholte Julian im ruhigsten Tone der Welt. »Man muß hier drei Groschen für die Nummer zahlen.«
Fouqué lachte.
»Also sogar im Priesterseminar gibts Liberale!« Und in der Heuchlerart des Abbé Maslon setzte er hinzu: »Armes Frankreich!«
Dieser Besuch hätte eine große Wirkung auf Julian gehabt, wenn er nicht schon am nächsten Tage durch eine Bemerkung seines kleinen Landsmannes, der ihm wie ein Kind vorkam, zu einer wichtigen Selbsterkenntnis gelangt wäre. Mit einemmal sah er in seinem Benehmen, seit er im Seminar war, eine Reihe verfehlter Maßregeln. Bitter spottete er über sich selbst.
In Wirklichkeit war seine Aufführung im großen und ganzen klug gewesen. Nur hatte er bisher den Kleinigkeiten zu wenig Wert beigemessen. Die Schlauen im Seminar sahen in den Kleinigkeiten die Hauptsache. Sie hatten ihn in Hinsicht auf diese kleinen Dinge beobachtet und hatten festgestellt, daß er Grütze im Kopfe hatte. Gleichwohl erklärte man ihn eines Riesenfehlers für überführt: er dachte und verriet ein selbständiges Urteil, statt daß er Autorität und Tradition blind anerkannte.
Der Abbé Pirard hatte Julian nichts genützt. Außerhalb des Beichtstuhles hatte ihn der Direktor kein einziges Mal angesprochen, und selbst bei der Beichte hatte er ihm mehr zugehört denn selbst etwas gesagt. Das wäre ganz anders gewesen, wenn sich Julian den Abbé Castanède zum Beichtvater gewählt hätte.
Von dem Augenblick an, wo Julian seine Unklugheit erkannte, langweilte und ärgerte er sich nicht mehr. Er wollte das Übel an der Wurzel fassen, und so gab er sein beharrliches und hochmütiges Sichabsondern auf, durch das er seine Kameraden vor den Kopf gestoßen hatte. Aber jetzt rächten sich seine früheren Fehler. Man nahm sein Entgegenkommen mit Verachtung, ja mit Hohn auf. Jetzt sah Julian, daß seit seinem Eintritt in das Seminar keine Stunde verstrichen war, besonders in den Pausen, in denen man nicht für oder wider ihn Stellung genommen hatte. Er hatte sich viele Feinde gemacht, wenn er sich auch das Wohlwollen einzelner, die wirklich fromm und nicht so ordinär wie die Mehrzahl waren, erworben hatte. Es war ungeheuer viel wieder gutzumachen, und das war durchaus nicht leicht. Fortan war er unablässig auf seiner Hut. Sein Ziel war es nun, sich als völlig gewandelter Mensch zu präsentieren.
Er hatte schwere Arbeit an sich selbst. Zum Beispiel machten ihm seine Augen viel zu schaffen. »Man muß sie wohlweislich an frommen Orten zu Boden schlagen. Wie dünkelhaft war ich doch in Verrières«, gestand er sich. »Ich glaubte in der Welt zu sein, aber dort, das war nur eine Vorstufe. Hier erst bin ich in der Welt, so wie ich sie vor mir haben werde, bis ich meine Rolle ausgespielt habe. In der Welt sein, heißt von wahren Feinden umgeben sein. In allen Augenblicken heucheln zu müssen, ist maßlos schwer. Die Arbeiten des Herkules sind nichts dagegen. Ein moderner Herkules war Papst Sixtus der Fünfte, gegen Ende des Cinquecento. Fünfzehn Jahre lang hat er vierzig Kardinale getäuscht, die ihn als hochmütigen lebhaften jungen Mann gekannt hatten, indem er vor ihnen den Demütigen spielte.«
Ärgerlich fuhr er fort: »Die Wissenschaften gelten also in diesem Hause nichts. Fortschritte in der Dogmatik und in der Kirchengeschichte werden nur zum Schein anerkannt. In Wirklichkeit hat alles, was in diesen Gebieten vorgetragen wird, nur den Zweck, Narren wie mich in die Falle zu locken. Zum Teufel, gerade diesem Plunder gegenüber habe ich rasche Fortschritte gemacht und Auffassungsfähigkeit gezeigt. Das war meine einzige Leistung. Und darauf war ich stolz, ich Tor! Die guten Zensuren, die ich regelmäßig bekomme, haben mir nichts eingebracht als bittere Feinde. Chazel, der mehr Kenntnisse hat denn ich, macht in seine Arbeiten immer absichtlich Fehler hinein, damit er eine mittelmäßige Zensur erhält. Bekommt er einmal die Eins, so ist seine
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