Rot und Schwarz
unwillkürlich die Muskeln um die Mundwinkel zuckten. Julian hatte die Empfindung, vor einem Raubtier zu stehen, das im Vorgefühl des Genusses schwelgt, eine Beute zu verschlingen.
»Der Brief des Pfarrers Chélan ist kurz«, fuhr er wie im Selbstgespräch fort. »
Intelligenti pauca
! Heutzutage kann man sich nie kurz genug fassen.«
Sodann las er laut vor:
»Lieber Pirard,
ich schicke Ihnen Julian Sorel aus unsrer Gemeinde. Ich habe ihn vor nun bald zwanzig Jahren getauft. Er ist der Sohn eines wohlhabenden Schneidemüllers, aber sein Vater gibt ihm kein Geld. Julian wird einmal ein tüchtiger Arbeiter im Weinberge des Herrn werden. An Gedächtnis und Auffassungsgabe fehlt es ihm nicht. Er versteht zu denken. Ob sein Drang zum geistlichen Stande ausdauert? Ist er aufrichtig?«
Hier unterbrach sich Pirard: »Aufrichtig?« wiederholte er im Tone der Befremdnis und sah Julian scharf an. Aber schon war sein Blick menschenfreundlicher.
»Aufrichtig?« brummte er nochmals. Dann las er weiter:
»Ich bitte Sie um eine Freistelle für Julian Sorel. Er wird sich ihrer würdig erweisen, indem er die vorgeschriebenen Examina besteht. Ich habe ihm etwas Theologie beigebracht, etwas von der guten alten Gottesgelahrtheit von Bossuet, Arnault und Fleury. Wenn er Ihnen nicht zusagt, so schicken Sie mir ihn zurück. Der Vorstand des hiesigen Armenhauses, den Sie ja kennen, bietet ihm eine Hauslehrerstelle mit achthundert Franken im Jahre.
Meine Seele hat ihren Frieden. Gottlob, ich überwinde den schweren Schlag nach und nach.
Vale et ama me!
Ihr Chélan.«
Gegen das Ende des Briefes las der Abbé Pirard immer langsamer. Den Namen seines Freundes sprach er mit einem Seufzer aus.
»Er hat seinen Frieden!« murmelte er vor sich hin. »Wahrlich, seine Tugend verdient diese Gnade. Wolle Gott mir das gleiche bescheren, wenn es mit mir so weit ist!« Er blickte gen Himmel und bekreuzigte sich.
Beim Anblick dieser frommen Gebärde wich das tiefe Grauen, das ihn seit dem Eintritt in dieses Haus gelähmt hatte, allmählich von Julian.
»Ich habe hier dreihunderteinundzwanzig Anwärter für den heiligen Stand«, sagte der Abbé Pirard nach einer kleinen Weile in strengem, doch nicht bösartigem Tone. »Davon sind mir sieben oder acht von ähnlichen Männern wie dem Pfarrer Chélan empfohlen. Somit sind Sie der neunte unter den dreihunderteinundzwanzig. Meine Protektion besteht nun aber nicht in Begünstigung und Nachsicht, sondern in doppelter Achtgabe auf Sie und in doppelter Strenge gegen die Sünde ... Schließen Sie die Tür da!«
Julian strengte sich an, zur Tür zu gehen. Es gelang ihm, ohne hinzusinken. Dabei bemerkte er, daß ein kleines Fenster neben der Tür hinaus ins Freie ging. Er sah Baumwipfel. Dieser Anblick tat ihm wohl, als grüßten ihn alte Freunde.
»
Loquerisne linguam latinam
? (zu deutsch: Sprichst du Lateinisch?)« fragte der Abbé, als Julian wieder vor ihm stand.
»
Ita, pater optime
! (Jawohl, ehrwürdiger Vater!)« antwortete Julian, nunmehr einigermaßen erholt. Noch nie in seinem Leben war ihm ein Mensch weniger ehrwürdig vorgekommen als der, vor dem er sich seit einer halben Stunde befand.
Die Unterhaltung setzte sich auf lateinisch fort. Die Augen des Direktors blickten Julian sichtlich sanfter an. Mehr und mehr gewann er seine Selbstbeherrschung wieder. »Ich bin doch gar kein Held«, sagte er sich, »wenn ich mich durch diesen Scheinheiligen ins Bockshorn jagen lasse! Er wird ganz genauso ein Spitzbub sein wie in Verrières der Abbé Maslon.« Jetzt freute sich Julian, daß er den größern Teil seiner Barschaft in seinen Stiefeln versteckt trug.
Pirard stellte mit ihm eine kurze theologische Prüfung an, wobei ihn Julians umfangreiche Kenntnisse überraschten. Seine Verwunderung steigerte sich, als er ihn über die Heilige Schrift befragte. Als er aber auf die Kirchenväter und ihre Dogmen zu sprechen kam, stellte er fest, daß Julian den heiligen Hieronymus, den heiligen Augustin, den heiligen Basilius und den heiligen Bonaventura kaum dem Namen nach kannte.
»Ja, ja«, dachte Pirard bei sich, »da haben wir wieder die verhängnisvolle Neigung zum Protestantismus, die ich Chélan immer vorgeworfen habe: eine gründliche, viel zu gründliche Kenntnis der Bibel!« Julian hatte nämlich, ohne danach gefragt zu sein, von der wissenschaftlichen Entstehungsgeschichte der Genesis, des Pentateuch usw. gesprochen. »Wohin führt dies ewige Deuteln an der Heiligen Schrift?« dachte Pirard
Weitere Kostenlose Bücher