Rot und Schwarz
kurzen Zeit seines Aufenthaltes in Besançon zuteil geworden, hatten seine Kräfte erschöpft. Er setzte sich ans Fenster auf den einzigen Holzstuhl, der in der Zelle stand, und schlief alsbald fest ein.
Es läutete zum Abendessen. Dann zum
Salus
. Julian hörte es nicht. Niemand holte ihn.
Andern Tags, als ihn der erste Morgensonnenstrahl weckte, merkte er, daß er auf dem Fußboden lag.
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Sechsundzwanzigstes Kapitel
Die Welt oder was dem Reichen fehlt
Ich bin allein auf Erden, niemand mag an mich denken. Alle, die ich reich werden sehe, verfügen über eine Dreistigkeit und eine Hartherzigkeit, die ich nicht über mich bringe. Sie hassen mich um meiner selbstverständlichen Güte willen. Ach, bald werde ich sterben, entweder vor Hunger oder aus Schmerz darüber, dass die Menschen so gefühllos sind.
Young
J ulian bürstete rasch seinen Rock ab und eilte hinunter. Er kam zu spät. Der Aufsichthabende fuhr ihn grob an. Anstatt sich zu entschuldigen, kreuzte Julian die Arme über der Brust und sagte in reuigem Tone: »
Peccavi, pater optime
!«
Sein derartiges erstes Auftreten machte großen Eindruck. Die Gescheiteren unter den Seminaristen merkten, daß sie es mit keinem Anfänger zu tun hatten. In der Erholungspause bildete Julian den Mittelpunkt der allgemeinen Neugier, aber er antwortete mit Zurückhaltung und Schweigen. Nach den Grundsätzen, die er sich aufgestellt hatte, betrachtete er seine dreihunderteinundzwanzig Kameraden als Feinde. Den allergefährlichsten aber sah er im Abbé Pirard.
Nach einigen Tagen mußte Julian seinen Beichtvater wählen. Man legte ihm eine Liste vor.
»Du mein Gott«, seufzte er, »für was hält man mich denn! Glaubt man, ich wüßte nicht, was das bedeutet?«
Er schrieb Pirard in die Liste. Ohne daß er es ahnte, beging er damit eine bedeutsame Tat. Ein kleiner, ganz junger Seminarist, der auch aus Verrières gebürtig war und ihm vom ersten Tage an Freundschaft bewiesen hatte, belehrte ihn, daß er wohl besser getan hätte, wenn er den Abbé Castanède 27 , den Unterdirektor des Seminars, gewählt hätte.
»Castanède ist Pirards Feind«, flüsterte er ihm zu, »und Pirard steht im Geruche, Jansenist zu sein.«
Ebenso wie die Wahl des Beichtvaters war zunächst alles, was Julian, der sich für so klug und weise hielt, tat, töricht und ungeschickt. Phantasiemensch, der er war, ließ er sich durch seinen Dünkel betören. In seinen Absichten erblickte er bereits Taten. Er hielt sich für einen Meister der Heuchelei. Ja seine Narrheit ging so weit, daß er sich seiner eingebildeten Erfolge in dieser Kunst der Schwäche schämte.
»Ach«, entschuldigte er sich vor sich selber, »die Heuchelei ist meine einzige Waffe! Zu einer andern Epoche hätte ich mir mein Brot durch Taten vor dem Feinde verdient!«
Zufrieden mit seinem Verhalten, beobachtete er das Tun und Treiben der andern. Alles, was er um sich sah, trug die Maske der lauteren Jugend. Acht oder zehn seiner Kameraden galten als Heilige . Sie hatten Visionen wie die heilige Therese und der heilige Franz von Assisi. Aber das war ein großes Geheimnis, das ihre Freunde streng wahrten. Diese jungen armen Visionäre lagen fast beständig in der Krankenstube. Etwa hundert andre einten in sich handfesten Glauben mit unermüdlichen Fleiß. Ohne merklich vorwärtszukommen, rackerten sie sich halbkrank. Nur zwei oder drei der Seminaristen ragten durch wirkliche Begabung hervor. Einer von diesen hieß Chazel. Indessen fühlte sich Julian ihnen gegenüber fremd, wie sie sich vor ihm.
Die übrigen von den dreihunderteinundzwanzig Kameraden waren gewöhnlichsten Schlags. Man war bei ihnen nicht sicher, ob sie die lateinischen Brocken, die sie immerfort im Munde führten, wirklich verstanden. Fast alle waren Bauernsöhne, die ihr Brot lieber durch das Herleiern lateinischer Worte als im Schweiße ihres Angesichts bei der Feldarbeit verdienen wollten. Auf Grund dieser Wahrnehmung, die Julian sehr bald zu machen begann, versprach er sich rasche Erfolge. »In jedem Berufe«, sagte er sich, »werden helle Köpfe gebraucht. Überall ist Arbeit zu leisten. Zu Zeiten Napoleons wäre ich Wachtmeister geworden. Unter diesen künftigen Dorfpfarrern werde ich's zum Großvikar bringen. Alle diese armen Teufel haben von Kind auf mit ihren Händen gearbeitet und, ehe sie hierher gekommen sind, von saurer Milch und Schwarzbrot gelebt. Fleisch haben sie in ihren Hütten keine sechsmal im Jahre gegessen. Jetzt sind diese Lümmels von den
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