Rot und Schwarz
ein Gefängnis. Ich muß meine Zivilkleider in irgendeinem Gasthof lassen, wo ich mich umziehe. Wenn ich einmal ausgehen darf, auf ein paar Stunden, könnte ich Fräulein Amanda in Zivil besuchen.«
Das war gut und schön; nur wagte sich Julian in keinen Gasthof hinein, obwohl er an mehreren vorüberkam. Schließlich ging er am
Hôtel des Ambassadeurs
vorbei. Da begegneten seine spähenden Blicke denen der Wirtin, die am Tore stand, einer behäbigen, noch ziemlich jungen Frau. Aus ihrem frischen Gesicht strahlte Glück und Frohsinn.
Er ging auf sie zu und trug ihr sein Begehren vor.
»Sehr gern«, sagte sie, »mein lieber kleiner Abbé, sehr gern hebe ich Ihnen Ihre Zivilkleider auf. Ich werde sie sogar öfters ausklopfen lassen. Im Sommer ist es nicht ratsam, einen Tuchanzug einfach hängen zu lassen.«
Sie nahm einen Schlüssel vom Brett und führte Julian selbst in ein Zimmer. Dann riet sie ihm, ein Verzeichnis aller der Sachen anzufertigen, die er dalassen wolle.
»Bei Gott! So sehen Sie wirklich nett aus!« sagte sie zu Julian, als er nach einer kleinen Weile im schwarzen Rock in die Küche herunterkam. »Jetzt will ich Ihnen etwas Ordentliches zu essen vorsetzen.«
Und leise fuhr sie fort: »Was andre mit einem Taler bezahlen, soll Sie nur zehn Groschen kosten! Ich möchte Sie nicht Ihrer Ersparnisse berauben.«
»Ich besitze zweihundert Franken«, entgegnete Julian.
»Allmächtiger!« erwiderte die Dicke ängstlich. »Sagen Sie das nicht so laut! Hier in Besançon gibt es sehr viel Gauner. Man maust Ihnen Ihr Geld im Handumdrehen. Meiden Sie vor allem die Kaffeehäuser! Dort wimmelt es von Spitzbuben.«
»Das will ich glauben!« meinte Julian mit einem Male nachdenklich.
»Kommen Sie nur immer zu mir! Ich werde Ihnen einen guten Kaffee kochen. Vergessen Sie nicht, daß Sie hier stets eine Freundin und ein anständiges Mittagessen für einen Franken finden. Das lassen Sie sich hoffentlich gesagt sein. Jetzt setzen Sie sich zu Tisch. Ich werde Sie selbst bedienen.«
»Ich werde nicht viel essen können«, entgegnete er. »Ich bin zu aufgeregt. Wenn ich Sie verlassen habe, trete ich in das Seminar ein.«
Die brave Frau entließ ihn nicht, ohne ihm die Taschen mit allerlei Vorräten vollgestopft zu haben. Endlich machte er sich auf nach dem Schreckensort. Die Wirtin wies ihm vor dem Tore den Weg.
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Fünfundzwanzigstes Kapitel
Das Seminar
Dreihundertsechsunddreißig Mittagessen zu 83 Centimes, dreihundertsechsunddreißig Abendessen zu 38 Centimes, Schokolade für jeden, der dazu berechtigt ist; wieviel ist da gegenüber dem Ankaufsangebot herauszuschlagen?
Der Valenod von Besançon
S chon von weitem erblickte Julian das vergoldete Eisenkreuz über dem Portal. Langsam schritt er darauf zu. Seine Beine versagten ihm geradezu den Dienst. »Hier stehe ich also vor der Hölle auf Erden, der ich nicht mehr entrinnen kann!« seufzte er.
Nach langem Zögern entschloß er sich, an der Klingel zu ziehen. Der Klang der Glocke hallte unheimlich laut wie durch ein verlassenes Haus. Nach zehn Minuten erschien ein blasser schwarzgekleideter Mann und öffnete. Julian sah ihn an und schlug sofort die Augen nieder. Es war der Torwart. Er hatte ein sonderbares Gesicht. Seine vorgequollenen grünen Augen hatten längliche Pupillen wie die einer Katze, und die unbeweglichen Lider verrieten vollkommenen Mangel an Mitgefühl. Seine vorstehenden Zähne waren von dünnen gähnenden Lippen umrahmt. Auf einen jungen Menschen wirkt ein Verbrechergesicht nicht so schrecklich wie das eines völlig Gefühllosen. Mit dem einen raschen Blick in sein mageres frommes Gesicht hatte Julian erkannt, daß dieser Mann alles verachtete, was nichts mit dem Himmel zu tun hatte.
Julian zwang sich, seine Augen wieder aufzuschlagen, und erklärte mit zitternder Stimme, vor Herzklopfen, daß er den Herrn Abbé Pirard, den Direktor des Seminars, zu sprechen wünsche. Ohne ein Wort zu erwidern, bedeutete der Schwarzröckige ihm zu folgen.
Sie gingen eine breite Treppe hinauf; sie hatte ein Holzgeländer und ausgetretene Stufen, die auf der Innenseite so schief waren, daß es aussah, als wollten sie einstürzen. Oben öffnete der Pförtner eine kleine knarrende Tür, über der ein hohes, schwarz angestrichenes Kirchhofskreuz aus gewöhnlichem Holze angebracht war, und ließ Julian in ein niedriges dunkles Zimmer treten, an dessen weißgetünchten Wänden zwei große von der Zeit gedunkelte Gemälde hingen.
Julian blieb allein. Sein Herz
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