Rot und Schwarz
in welche schlau gelegte Falle er gegangen war.
Die Hinterlist des Examinators wurde unter den Seminaristen allgemein verurteilt. Der Abbé von Frilair aber, der Oberexaminator, der die Fäden der geheimen Kongregation zu Besançon in seiner geschickten Hand hielt, ein Intrigant, vor dessen Berichten nach Paris die Regierungsoberbeamten, die Richter, ja sogar hohe Offiziere der Garnison zitterten, setzte, mächtig wie er war, in gewichtigen Zügen die Ziffer 198 neben Julians Namen in die Schlußliste. Es bereitete ihm Vergnügen, seinem Feinde, dem Jansenisten Pirard, wieder einmal eins auszuwischen.
Seit einem Jahrzehnt war es das Ziel seiner Umtriebe, dem Abbé die Seminarleitung zu entreißen. Pirard hatte die Grundsätze, die er Julian vorgeschrieben, in seinem eignen Lebenswandel streng befolgt; er war wahrheitsliebend, fromm, ehrlich und pflichtgetreu. Aber der Himmel in seinem Zorne hatte ihm das Temperament eines Cholerikers gegeben. Gegen Beleidigungen und Gehässigkeit war er überempfindlich. Seine Feuerseele nahm jede Kränkung auf. Hundertmal schon wäre er freiwillig von seinem Posten gegangen, wenn er nicht den Glauben gehabt hätte, daß er auf dem Platze, an den die Vorsehung ihn gestellt, eine Aufgabe zu erfüllen habe. »Ich bin ein Prellstein gegen das Weitervordringen von Jesuitentum und Götzendienerei«, sagte er sich.
Zur Zelt der Examina war es etwa zwei Monate her, daß er mit Julian gesprochen hatte, und doch war er acht Tage lang krank, als er den Prüfungsbericht des Oberexaminators durchlas und neben dem Namen des Schülers, den er für die Leuchte seiner Schule hielt, die Zensur 198 fand. Der strenge Moralist suchte seinen einzigen Trost darin, daß er sein Augenmerk auf Julian verdoppelte. Zu seiner Herzensfreude sah er ihn weder voll Wut noch voll Rachgier und auch nicht mutlos.
Ein paar Wochen später bekam Julian zu seinem Schreck einen Brief aus Paris. »Endlich«, dachte er, als er den Poststempel las, »endlich erinnert sich Luise ihres Versprechens.«
Ein angeblicher Verwandter, als Paul Sorel unterzeichnet, sandte ihm einen Scheck auf fünfhundert Franken und stellte die nämliche Summe alljährlich in Aussicht, wenn sich Julian weiterhin mit Erfolg dem Studium der lateinischen Klassiker widme.
»Das ist sie! Das ist ihre Güte!« sagte sich Julian gerührt. »Sie will mich trösten. Aber warum sagt sie mir kein einziges liebes Wort?«
Julian irrte sich in seiner Vermutung über den Absender des Briefes. Frau von Rênal lebte unter dem Einflusse ihrer Freundin Frau Derville einzig und allein noch ihrer Reue. Zwar mußte sie manchmal des seltsamen Menschen gedenken, dessen Erscheinung ihr ganzes Sein bis in den Grund umgewandelt hatte, aber sie hütete sich, ihm zu schreiben.
Die Zusendung des Geldes war ein wundersamer Zufall, und niemand anders war ahnungslos der Anlaß als der Großvikar von Frilair.
Vor zwölf Jahren war er in Besançon eingezogen, mit einem leichten Ränzlein, von dem die Sage ging, es habe sein gesamtes Hab und Gut geborgen. Jetzt war er einer der reichsten Grundbesitzer im Regierungsbezirk. Unter anderm besaß er ein Gut, dessen andre Hälfte durch Erbschaft an den Marquis von La Mole gefallen war. Hierüber hatte sich ein großer Prozeß zwischen den beiden entsponnen.
Trotz seiner glänzenden Stellung in der Residenz und seiner Hofämter erfuhr der Marquis am eigenen Leibe, wie gefährlich es war, mit einem Besançon Großvikar, der Regierungspräsidenten ein- und absetzte, im Streit zu liegen. Anstatt sich mit einer Vergleichssumme von fünfzigtausend Franken zu begnügen, die sich irgendwie im Budget hätte unterbringen lassen, hatte sich der Marquis in die Sache verbissen. Er glaubte im Recht zu sein. Ein schöner Grund. Wo in der Welt gibt es einen Richter, der nicht einen Sohn oder wenigstens einen Neffen vorwärtsbringen will?
Nachdem der Großvikar in der ersten Instanz ein Urteil zu seinen Gunsten durchgesetzt hatte, genierte er sich durchaus nicht, in der Kutsche des Bischofs bei seinem Rechtsanwalt vorzufahren und ihm eigenhändig das Kreuz der Ehrenlegion zu überbringen. Einem Blinden hätten da die Augen aufgehen müssen! Der Marquis von La Mole war über das Gebaren seines Prozeßgegners ein wenig betroffen. Es kam ihm vor, als erlahmten seine Anwälte. Deshalb wandte er sich an den Abbé Chélan mit der Bitte um seinen Rat. Chélan setzte ihn mit Pirard in Verbindung.
Das war vor mehreren Jahren. Der Abbé Pirard hatte seinen
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