Rot Weiß Tot
bestimmten Augenblicken irre Ideen. Sie lachen darüber oder ignorieren sie. Er hat eben eine davon umgesetzt. Ist das Genialität?«
Sarah rekelte sich auf ihrer Matte. »Kannst du dir Stern als Mörder vorstellen?«
»Ich kann ihn mir auch nicht als Unschuldigen vorstellen«, sagte Albin nach kurzem Nachdenken.
»Nicht jeder, der schweigt, hat etwas zu verbergen.«
Ein Anruf Bergmanns unterbrach sie. »Wir müssen unserer Beziehung leider eine offizielle Note geben«, sagte der Chefinspektor.
»Sie wollen mich heiraten?«
»Sie lernen es allmählich. Zynismus ist gegen die Depression nach dem Anblick von Verbrechen fast so gut wie Präservative gegen Aids. Ich will Sie nur zu einer offiziellen Vernehmung bitten. Sie sind Tatzeuge.«
»Bitten?«
»Wir fangen immer mit einer Bitte an.«
Erstaunlich, wie schnell Bergmann seine Zuneigung gewonnen und wieder verloren hatte. »Wann und wo?«, fragte er.
»Wir könnten es jetzt gleich hinter uns bringen.«
Um ihn zu ärgern, schlug Albin achtzehn Uhr vor.
»Meinetwegen«, murrte der Chefinspektor. »Obwohl ich eigentlich anderes zu tun hätte.«
»Sagen Sie bloß, Sie haben Hobbys«, sagte Albin.
Er stellte sich vor, wie Bergmann daheim mit gutmütiger Miene lebenden Fliegen die Flügel ausriss und ihnen dabei freundlich erklärte, dass sie nun fürs Leben gelernt hätten, sich vor Menschen zu hüten.
»Sie sind böse auf mich«, sagte Bergmann. »Das ändert nichts an meiner Wertschätzung für Sie. Auch wenn Sie mir die nicht abnehmen.«
Sie legten auf. Sarah hatte zugehört. »Musst du weg?«, fragte sie.
»Sieht so aus.«
Abwesend wählte Albin Gregoritschs Nummer.
Der Lektor hob sofort ab. »Ich suche ein bestimmtes Romanmanuskript«, sagte Albin. »Es muss zu Zimmermanns Zeit in Ihrem Verlag eingereicht worden sein. Können Sie nachsehen?«
»Kein Problem. Kennen Sie den Titel?«
»Der Fronleichnamsmörder.«
»Das kommt mir irgendwie bekannt vor.«
Schneller sein als Ursi Plank, dachte Albin. Schneller als die Kriminalpolizei. Schneller als Bergmann.
»Fahren wir gemeinsam in den Verlag«, schlug Gregoritsch vor. »Wir treffen uns in der U-3-Station Neubaugasse, in fünfundvierzig Minuten. Ist Ihnen das zu früh?«
»Im Gegenteil. Ich habe es eilig.«
»Wunderbar.«
Albin zog seine Jacke wieder an. »Wie lange wirst du brauchen?«, fragte Sarah.
Albin sah auf die Studiouhr mit der posierenden Muskelfrau auf dem Zifferblatt. Sarah würde bei ihm übernachten. Bei ihr daheim herrschte wegen eines Streits zwischen ihren Eltern dicke Luft. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Um sechs muss ich in der Rossauer Kaserne sein. Wahrscheinlich komme ich erst danach zurück.«
»Kein Problem. Ich bin gerne allein hier.«
Sie klopfte auf ihre Tasche mit den Skripten.
Gregoritsch war vor Albin in der U-Bahn-Station. Der Lektor blieb bei der Abfahrt eines Zuges als Einziger eines Schwalles von Menschen übrig, die sich in die silberfarbenen Waggons pressten oder in Richtung Ausgang trotteten. Ein wenig vorgebeugt saß er allein auf einer weißen Plastikbank.
Albin erschien der Lektor zuerst noch gebrechlicher und hinfälliger als zuletzt im Café Sperl. Erst als er sich aufrichtete, doppelt so breit und einen halben Kopf größer als Albin, wirkte er wieder klotzig und polternd. Seine Schwäche war nur noch ein Hauch von Melancholie in seinem Blick.
»Sind Sie wieder gesund?«, fragte Albin.
»Ab fünfundfünfzig ist Gesundheit relativ. Gesund, so wie Sie es meinen, ist man nie mehr. Das Bedürfnis nach der Entrümpelung des Körpers steigt allmählich. Aber es gibt noch immer gute und schlechte Tage. Ich habe heute einen … ach was, ich weiß es nicht.«
An der Haltestange auf der mittleren Plattform des U-Bahn-Waggons entstand eine verkrampfte Stille zwischen ihnen. Schließlich schüttelte Gregoritsch den Kopf. »Es ist so absurd, was rund um Marko geschieht. Als Autor hatte er eine Menge auf dem Kasten. Als Mensch war er so trivial wie eine Schaufensterpuppe. Ich dachte immer, solche wie er würden statt zu sterben in einer Gerümpelkammer landen und ein Dekorateur würde entscheiden, ob sie ein Leben nach dem Tod haben werden.«
Albin fand Gregoritschs dahinplätschernde Rede besser als das Schweigen. Wie erwartet kam der Lektor immer mehr ins Philosophieren. Als sie mit der Rolltreppe zum Schwedenplatz hinauffuhren, zeigte er auf eine Verkäuferin in einem Süßwarenkiosk gegenüber dem Ausgang. »Sehen Sie sich zum Beispiel diese Frau
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