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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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nicht kann.«
    Ich erinnere mich, wie Corr sich von Sean hat besänftigen lassen wie von keinem anderen am Strand. Wie Seans Geruch in seinem Hemd ihn zur Ruhe brachte, wie nichts anderes es vermocht hätte.
    »Irgendwas sagt mir, dass meine Spucke auf Corr nicht dieselbe Wirkung hätte wie deine«, entgegne ich.
    Es folgt ein langer Moment des Schweigens, bevor Sean erwidert: »Vielleicht jetzt noch nicht.«
    Noch nicht! Ich glaube nicht, jemals etwas Schöneres gehört zu haben.
    »Und das Flüstern«, frage ich weiter. »Was sagst du zu ihm?«
    Sean steht an Corrs Schulter und zum allerersten Mal lächelt er mich an. Es ist nur der Hauch eines Lächelns und es liegt weder Belustigung noch Humor darin, darum bin ich nicht sicher, was es bedeutet. Er wirkt jünger, wenn er lächelt, und zugänglicher, was vielleicht gerade der Grund sein könnte, warum er es vermeidet. Er schmiegt seine Wange an Corrs Widerrist und sagt: »Was immer er gerade hören muss.«
    Eins von Corrs Ohren dreht sich in seine Richtung; das andere bleibt mir zugewandt. Ich kann den Blick nicht von Sean wenden, wie er an Corr gelehnt dasteht. Dieses Bild hat irgendetwas an sich – dieser massige rote Riese, der einen Mann getötet hat, und Sean Ken-drick, dunkel und schmal, neben ihm, als wären sie die besten Freunde. Der Anblick fasziniert mich und gleichzeitig bestürzt er mich.
    Sean merkt, dass ich ihn beobachte, und fragt: »Hast du Angst vor ihm?«
    Ich will nicht Ja sagen, denn im Moment, da Corr wie ein normales Pferd und nicht so sehr wie ein gefährliches Raubtier aussieht, habe ich keine Angst vor ihm, aber ich will auch nicht Nein sagen, denn gestern Morgen am Strand war ich halb verrückt vor Panik und Entsetzen. Ich würde ja trotzdem verneinen, aber ich habe das sichere Gefühl, dass Sean Kendrick mich mit seinem bohrenden Blick sofort durchschauen und bis hinunter zu den Widersprüchen vordringen würde, die hinter dieser Antwort stecken würden. Darum erwidere ich stattdessen: »Du hast gesagt, dass nicht mal du ihm traust.«
    »Ich traue auch dem Meer nicht, es könnte mich mühelos töten. Aber das heißt nicht, dass ich Angst vor ihm habe.«
    Ich runzele die Stirn und wieder sehe ich Sean Kendrick vor mir, wie er, tief über den Hals des roten Hengstes gebeugt, ohne Sattel
    hoch oben über die Klippen galoppiert. Wie er den Anblick von Mutt Malvern auf Corrs Rücken nicht erträgt. Und zum ersten Mal weiche ich dem Blick seiner schmalen Augen nicht aus. »Aber du hast nicht nur keine Angst vor ihnen. Du liebst sie, oder? Du liebst Corr.«
    Sean Kendrick zuckt zusammen, als hätte ich ihn erschreckt. Er bleibt so lange still, dass ich die Geräusche vom Hof hören kann, Stimmen und Wiehern, plätscherndes Wasser und zuschlagende Türen. Dann sagt er: »Und du liebst diese Insel. Erklär mir, wo der Unterschied ist.«
    Und kaum hat er es ausgesprochen, wird mir klar, dass ich diesem Argument nichts entgegenzusetzen habe. Er hat recht damit, dass es die Insel nicht kümmert, ob ich am Leben bin oder tot, und auch damit, dass ich sie trotzdem liebe. Vielleicht gerade deswegen.
    »Darüber will ich lieber nicht mit dir streiten«, wehre ich ab. »Ich glaube, das wäre nicht besonders zufriedenstellend.«
    Wie als Antwort darauf sieht er aus dem Fenster und studiert die trostlose Landschaft so eingehend, als habe er dort irgendetwas Besonderes entdeckt, sodass ich seinem Blick schließlich folge. Und nur weil ich mit zwei Brüdern aufgewachsen bin, begreife ich nach einem Moment, dass er gar nicht nach draußen blickt, sondern in sich hinein, und mit irgendetwas ringt. Und mir bleibt nichts übrig, als abzuwarten.
    Nach einer Weile fragt er: »Möchtest du ihn mal reiten?«
    Ich bin nicht sicher, ob ich mich verhört habe. Aber ich will nicht Wie bitte? fragen, denn falls ich mich nicht verhört habe, würde es klingen, als wollte ich nicht, und falls doch, könnte er glauben, dass ich mit meinen Gedanken woanders war.
    Dann fügt er hinzu: »Mit mir zusammen?«
    In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Dass ich noch vor einem Tag dabei zugesehen habe, wie dieses Pferd einem Mann die Kehle herausgerissen hat. Dass es das schnellste Pferd auf der ganzen Insel ist. Dass ich das Andenken meiner Eltern beschmutzen würde. Dass ich Angst habe, ich könnte es lieben. Dass ich Angst
    habe, Angst zu haben. Dass ich nicht will, dass Sean Kendrick schlecht von mir denkt. Dass ich mit dem Gedanken an das, was ich getan habe, leben

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