Rot wie das Meer
Ende sein, lange bevor es seine Kraft ist.
Hier oben auf seinem Rücken sind wir Riesen.
Sean murmelt mir ins Ohr: »Fordere mehr von ihm.«
Und als ich Corr noch einmal meine Waden in die Seiten drücke, stürmt er los, als wären wir vorher bloß gemächlich geschlendert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Pferd am Strand schneller sein soll als er. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Pferd auf der ganzen Welt schneller sein soll als er. Und dabei trägt er zwei Reiter. Mit Sean allein auf seinem Rücken – wie könnte er da das Rennen verlieren?
Wir fliegen.
Corrs Haut ist heiß unter meinen Beinen – und scheint sie regelrecht anzusaugen, wie wenn eine Welle einem die Zehen tiefer in den Sand drückt. Ich spüre seinen Herzschlag in meinem, seine Energie in meiner, und ich weiß, dies ist die geheimnisvolle, furchterregende Magie der Capaill Uisce. Wir alle kennen sie und wissen, wie sie von einem Reiter Besitz ergreift, ihm die Sinne raubt und ihn ins Wasser reißt, bevor er sich dessen auch nur bewusst ist. Aber Sean lehnt sich mit einem Ruck nach vorn, gegen mich, greift wieder in Corrs Mähne und bindet kleine Knoten hinein. Drei. Dann sieben. Dann wieder drei. Ich versuche, mich auf das zu konzentrieren, was er da macht, anstatt auf das Gefühl, wie sich sein Körper an meinen presst, seine Wange in mein Haar.
Ich lege den Zügel an Corrs Hals und der Hengst galoppiert nach links, weg vom Rand der Klippen. Sean sitzt noch immer dicht an mich gedrängt und presst die Finger der einen Hand auf eine von Corrs Adern, während er mit der anderen weiter seine Mähne festhält. Die Magie ebbt zu einem dumpfen Summen in meinem Inneren ab. Mein Körper warnt mich vor der Gefahr dieses Capaill Uisce unter mir, doch zur gleichen Zeit scheint er vor Lebendigkeit zu schreien.
Wir kehren um und reiten den Weg zurück, den wir gekommen sind. Ich warte darauf, dass Corr langsamer wird, irgendwelche Anzeichen von Ermüdung zeigt, aber ich nehme nichts wahr als das Donnern seiner Hufe auf dem Boden, seinen schnaubenden Atem und den Wind, der mir um die Ohren pfeift.
Die Insel liegt im Mondlicht vor uns ausgebreitet. Wir galoppieren parallel zum Rand der Klippe und jenseits davon sehe ich einen Schwarm weißer Vögel, die uns begleiten. Vielleicht Möwen; sie segeln durch die Luftströme, die sie immer wieder hoch in den Himmel wirbeln, wenn sie nahe an den Felsen entlanggleiten. Das hier ist Thisby, denke ich. Das hier ist die Insel, die ich liebe. Plötzlich habe ich das Gefühl, alles über diese Insel und gleichzeitig mich selbst zu wissen, aber mir ist klar, dass das Gefühl nur so lange anhalten wird, wie wir reiten.
Schon bald sind wir wieder an der Stelle, an der wir losgeritten sind, und ich bremse widerstrebend Corrs Schritte. Mein Herz wummert mir in den Ohren, galoppiert weiter, obwohl Corr längst stehen geblieben ist.
Ich lasse mich von seinem Rücken gleiten und gehe ein paar Schritte, bevor ich mich umdrehe und beobachte, wie auch Sean absteigt. Er greift in seine Tasche, holt eine Handvoll Salz oder Sand heraus, streut sie um Corr herum auf den Boden und spuckt in den Kreis. Als er fertig ist, kommt er zu mir herüber, dunkel und lautlos. Er sieht mich an, wie er es in der Nacht des Skorpio-Fests getan hat, und ich spüre, dass ich seinen Blick erwidere. Etwas Wildes, Uraltes tobt in meinem Inneren, aber ich habe keine Worte.
Sean greift nach meinem Handgelenk. Er drückt seinen Daumen auf meinen Puls. Mein Herzschlag rast und hämmert gegen seine Haut. Ich erstarre unter seiner Berührung wie unter einem düsteren Zauber.
Lange, lange stehen wir da und ich warte darauf, dass sich mein Puls unter seinem Finger beruhigt, aber das tut er nicht.
Schließlich lässt er mein Handgelenk los und sagt: »Wir sehen uns morgen auf der Klippe.«
48
Puck Als ich nach Hause komme, ist alles blitzsauber. So hat es seit dem Tod unserer Eltern nicht mehr hier ausgesehen. Einen Moment lang bleibe ich in der Tür stehen, wie erstarrt vor Überraschung und Verwirrung, und dann kommt Finn durch den Flur auf mich zugestürmt. Er sieht aus, als hätte er vor einem Moment noch in Flammen gestanden und sich selbst gelöscht. Ich tauche aus meinen Gedanken auf, um mir zusammenzureimen, was passiert ist.
»Was ist denn los?«, frage ich.
Finn setzt mehrere Male an, etwas zu sagen, aber nur seinen Händen gelingt es. Schließlich bringt er heraus: »Ich dachte, dir ... wie hätte ich denn wissen
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