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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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können muss, wenn ich nachts im Bett liege und darüber nachdenke.
    »Auf den Klippen«, sage ich. Das Wasser steht so hoch, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Ich denke an das andere Capaill Uisce, das er dort geritten hat, die Stute, die sich von der Klippe gestürzt hat.
    Er blickt mich lange an. »Du kannst Nein sagen.«
    Doch er weiß, dass ich das nicht tun werde.

46
    Sean Als ich acht Jahre alt war, braute sich der Oktoberwind zu einem Sturm zusammen, der die See um Thisby aufpeitschte. Schon Tage bevor der Regen einsetzte, türmten sich Wolken am Horizont und das Meer kroch weit die Felsen hinauf, gierig nach der Wärme unserer Häuser. Meine Mutter weinte und vergrub ihr Gesicht in den Händen, als der Wind die Ziegel auf unserem Dach klappern ließ wie Zähne. Ich hörte ihre Tränen an den Fenstern, lange bevor sich der Himmel verdunkelte. Das war, bevor es Frühling wurde, bevor der nächste Oktober kam und die Flut, die sie ans Festland trug und meinem Vater Corr brachte.
    Es war dunkel, als mein Vater die Tür öffnete und mit mir aus dem Haus in die salzwassergeschwängerte Nacht hinausging. Der Mond hing rund und voll und tapfer über uns. Der Strand, zu dem mein Vater mich führte, war flach und glatt wie Glas, der nasse Sand spiegelte das Mondlicht wider. Der Ozean erstreckte sich weiter und weiter und weiter und bei diesem Anblick wurde mir das Herz schwer.
    Mein Vater ging mit mir zu einer Spalte in den Klippen. Wir mussten über immer größere Felsbrocken klettern, um bis zu ihrem Ende zu gelangen, einem Hohlraum unter der Klippe, in den das wütende Meer in ferner Vergangenheit eine wunderschöne totenweiße Mu-schelhornschale und einen menschlichen Oberschenkelknochen gespült hatte. Es war dunkel hier, wo wir den Mond sehen konnten, aber der Mond uns nicht. Unter uns lag der Strand.
    Ich erinnere mich nicht daran, dass mein Vater mich ermahnt hätte, still zu sein, aber ich war es. Der Mond wanderte über den Himmel,
    während langsam die Flut hereinrollte. Das Wasser war sturmgepeitscht und wild.
    Sie kamen mit der Flut. Der Mond erleuchtete lange Linien von Schaum, während sich ein Stück vor der Küste die Wellen sammelten und sammelten und sammelten, und als sie sich dann endlich am Strand brachen, purzelten die Capaill Uisce mit ihnen in den Sand. Die Pferde hoben ihre Köpfe mit sichtlicher Anstrengung und versuchten, sich aus dem Salzwasser zu befreien. Als sie aus dem Meer stiegen, packte mein Vater mich beim Arm, die Fingerknöchel weiß.
    Still, sagte er.
    Aber ich war schon still.
    Die Capaill Uisce stapften durch den Sand, sie buckelten und rangelten miteinander, schüttelten sich den Meeresschaum aus den Mähnen und den Atlantik von den Hufen. Sie riefen nach den anderen, die noch im Wasser waren, schrille Schreie, bei denen sich mir die Härchen auf den Armen aufstellten. Sie waren schnell und tödlich, wild und schön. Die Pferde waren Riesen, Land und Meer zugleich, und in dem Moment wusste ich, dass ich sie liebte.
    Jetzt führen Puck und ich unter einem tiefblauen Himmel meinen Hengst auf die Klippe hinaus. Ihre Miene ist grimmig und unnachgiebig und zeigt den unerschütterlichen Mut eines kleinen Boots in gefährlichem Wasser. Über uns hängt derselbe Vollmond, der schon damals vor all diesen Nächten das Meer erhellt hat.
    Ich erinnere mich an die weißen Fingerknöchel meines Vaters auf meinem Arm. Still.
    Sie steht neben Corr und blickt zu ihm auf.
    Ich will, dass sie ihn liebt.

47
    Puck Hier draußen auf den Klippen bewegt sich der rote Hengst unablässig. Seine Nüstern blähen sich, um den Seewind einzufangen, der mir das Haar aus der Stirn weht. Als ich noch jünger war und Dove schmutzig und ohne Sattel und Zaumzeug auf ihrem Paddock geritten habe, bin ich auf Zäune oder Felsbrocken gestiegen, um auf ihren Rücken zu krabbeln. Heute, mit Corr, ist es nicht anders, nur dass der Felsbrocken, auf den ich klettern muss, größer ist als die, die ich für Dove brauchte. Sean bugsiert Corr in die richtige Stellung und sagt dann zu mir: »Ruhiger wird er nicht werden.«
    Mein Herz rast schon jetzt in vollem Galopp. Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich im Begriff bin, auf ein Capaill Uisce zu steigen. Und nicht irgendein Capaill Uisce, sondern das, dessen Name ganz oben auf der Tafel in der Fleischerei steht. Das viermal das Skorpio-Rennen gewonnen hat. Und das David Prince gestern Morgen die Kehle herausgerissen hat. Ich greife mir eine Handvoll von

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