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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Vermutlich ist das immer noch besser als die Wände seiner Box.
    Einen Moment lang sehe ich schweigend zu, wie Sean Corrs Bein bandagiert, wie sich seine Schultern bewegen, wenn sie mal nicht unter seiner Jacke verborgen sind, wie er den Kopf schräg legt, vollkom-
    men in seine Arbeit vertieft. Entweder hat er mich noch nicht bemerkt oder er tut nur so und mir ist beides recht. Es ist schön, jemandem zuzusehen, der seine Arbeit so gewissenhaft erledigt, mit voller Hingabe. Ich versuche zu ergründen, was genau Sean Kendrick so sehr von anderen Leuten unterscheidet, was genau ihn so ungezähmt und gleichzeitig so ruhig wirken lässt, und beschließe nach einer Weile, dass es etwas mit Zögern zu tun hat. Die meisten Menschen zögern zwischen den Handgriffen irgendeiner Tätigkeit, halten kurz inne oder begutachten immer wieder unsicher das Ergebnis. Ob die Tätigkeit nun darin besteht, ein Bein zu bandagieren oder ein Sandwich zu essen oder einfach sein Leben zu leben. Bei Sean aber scheint es niemals eine einzige Bewegung zu geben, derer er sich nicht vollkommen sicher ist, selbst wenn das manchmal bedeutet, dass er sich gar nicht bewegt.
    Corr dreht den Kopf und blickt mich nur mit seinem linken Auge an und nun sieht auch Sean zu mir auf. Er sagt nichts und ich hebe seine Jacke hoch, damit er sie sehen kann.
    »Das Blut hab ich nicht ganz rausgekriegt.«
    Sean wendet sich wieder ab und lässt mich mit der Jacke stehen. Ich überlege, ob ich sie einfach vor die Box legen oder darauf warten soll, dass er noch etwas sagt, doch bevor ich zu einer Entscheidung komme, hat Sean seine Arbeit beendet, steht auf und blickt mich an. Seine Finger pressen sich seitlich in Corrs Hals.
    »Das ist nett von dir«, sagt er.
    »Ich weiß«, entgegne ich. Doves Decke hätte eigentlich gar nicht gewaschen werden müssen, aber da ich nun schon einmal Seans Jacke hatte, habe ich sie trotzdem mitgewaschen. Ich habe an den Flecken herumgeschrubbt, bis meine Finger schrumpelig wurden und ich meine Hilfsbereitschaft zu bereuen begann. »Was machst du da?«
    »Seine Beine mit Seetang umwickeln.«
    Mir ist schleierhaft, warum man einem Pferd die Beine mit Seetang umwickeln sollte, aber Sean sagt es mit einer solchen Selbstverständ-
    lichkeit, dass die Prozedur ganz offensichtlich irgendeinem Zweck dient.
    Ich wedele mit seiner Jacke. »Soll ich die irgendwo hier hinlegen?« Ich frage nur der Höflichkeit halber. Denn ich will nicht, dass er Ja sagt. Ich weiß nicht, was ich eigentlich von ihm hören will, nur dass es etwas sein soll, was mir einen Vorwand liefert, noch ein paar Minuten hierzubleiben und ihn anzusehen. Mir das eingestehen zu müssen, versetzt meinem Stolz einen ganz schönen Dämpfer, denn bis auf die Tatsache, dass ich mit sechs Jahren fest entschlossen war, Dr. Halsal zu heiraten, bin ich immer davon ausgegangen, dass ich niemals von einem anderen Menschen faszinierter sein könnte als von mir selbst.
    Sean blickt von der anderen Seite der Tür aus den Gang hinauf und hinunter, als suche er nach einem Ort, an dem ich seine Jacke lassen könnte, bevor er wieder stirnrunzelnd mich ansieht, wie um mir mitzuteilen, dass er nach etwas völlig anderem gesucht habe. »Ich bin fast fertig hier. Kannst du kurz warten?«
    Ich versuche, nicht auf seine Hand zu starren, die noch immer auf dem Hals des roten Hengstes liegt. Die Art, wie sich seine Finger leicht in die Haut graben, ist eine Warnung für Corr, auf Distanz zu bleiben, gleichzeitig aber ist es eine beruhigende Geste, so wie ich auch Dove berühren würde, bloß um sie daran zu erinnern, dass ich da bin. Der Unterschied ist nur der, dass Corr gestern Morgen einen Mann getötet hat.
    »Ein, zwei Minuten habe ich wohl noch Zeit«, erwidere ich.
    Sean lässt seinen Blick schweifen, wie ich es schon von ihm kenne, von meinem Kopf bis hinunter zu meinen Füßen und wieder zurück, sodass ich das Gefühl habe, dass er die Tiefen meiner Seele ergründet und all meine Ziele und Sünden aus ihr herauskitzelt. Dieser Blick ist schlimmer als eine Beichte bei Pfarrer Mooneyham. Schließlich sagt er: »Wenn du mir hilfst, geht es schneller.«
    Bei diesen Worten werden seine Augen einen Hauch schmaler, was mir verrät, dass er mich testet. Ob ich mutig genug bin, Corrs Box zu betreten nach gestern Morgen, nachdem ich Zeit gehabt habe, über
    alles, was passiert ist, nachzudenken. Allein der Gedanken daran lässt mein Herz schneller schlagen. Die Frage ist nicht, ob ich Corr traue. Die

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