Rot wie das Meer
sie. »Du hast doch gesagt, sie muss sich an den Strand gewöhnen. Es ist die letzte Gelegenheit.«
Ich muss schreien, damit sie mich bei dem Wind überhaupt hört. Ich hebe die leeren Hände zu Himmel. »Siehst du vielleicht Corr bei mir? Das da unten ist kein Strand, an den ihr beide euch gewöhnen wollt, glaub mir.« Mörderischer Sand, so hat mein Vater den Strand an Tagen wie diesem genannt. An Tagen wie diesem sterben Reiter, weil
sie es nicht besser wissen, weil sie verzweifelt sind oder weil sie Mut mit Dummheit verwechseln.
Puck sieht mit gerunzelter Stirn zum Klippenpfad hinüber. Ich erkenne Unsicherheit in der Furche zwischen ihren Augenbrauen.
»Wenn du mir auch nur ein bisschen vertraust, dann geh das Risiko nicht ein. Du bist so gut vorbereitet, wie du nur sein kannst«, füge ich hinzu. »Alle anderen verlieren auch einen Trainingstag.«
Wütend und frustriert beißt sie sich auf die Lippe und starrt zu Boden, doch schon einen Moment später hat sie sich wieder beruhigt. »Dann kann man es wohl nicht ändern. Ist Tommy Falk da unten?«
Ich weiß es nicht. An Tommy Falk habe ich kein Interesse.
»Halt mal kurz Dove«, sagt sie, als ich ihr keine zufriedenstellende Antwort geben kann. »Falls er da unten ist, hole ich ihn.«
Ich will nicht, dass sie zum Strand geht, mit oder ohne Pferd. »Ich gehe nach ihm sehen», widerspreche ich. »Bring du Dove nach Hause.«
»Dann gehen wir eben beide«, beschließt Puck. »Warte einen Moment. Ich überrede Elizabeth, dass ich Dove hinter ihrem Stand anbinden darf. Bleib, wo du bist.«
Ich beobachte, wie Puck zum Stand von Fathom & Sons läuft und eine hitzige Diskussion mit einer der Schwestern beginnt, die dort Dienst schiebt.
»Kein gutes Gespann, Sean Kendrick«, sagt eine Stimme an meinem Ellbogen. Es ist die andere Fathom-&-Sons-Schwester und sie folgt meinem Blick zu Puck. »Wer von euch soll denn den Haushalt führen?«
Ich sehe weiter zu Puck hinüber. »Ich glaube, Sie haben zu viel Fantasie, Dory Maud.«
»Der Fantasie überlassen Sie nicht gerade viel«, entgegnet Dory Maud. »Sie verschlingen das Mädchen ja mit den Augen. Ein Wunder, dass wir anderen sie überhaupt noch sehen können.«
Ich wende mich ihr zu. Dory Maud ist eine schroff wirkende Frau, gewieft und arbeitsam, und selbst mir, draußen auf dem Malverr-
Hof, ist nicht verborgen geblieben, dass sie es mit dem stärksten Mann auf der Insel aufnehmen würde, um ihm auch noch den letzten Penny abzuknöpfen. »Und in welchem Verhältnis stehen Sie zu ihr?«
Dory Mauds Miene ist verschlagen. »In demselben Verhältnis, in dem Benjamin Malvern zu Ihnen steht, nur mit weniger Geld und mehr Zuneigung.«
Wir blicken beide zurück zu Puck, die den Streit mit Elizabeth gewonnen hat und nun Dove hinter dem Stand anbindet. Der garstige Wind peitscht ihre Haare und Doves Mähne hin und her. Ich muss daran denken, wie sich ihr Zopf in meiner Hand angefühlt hat, die Wärme ihrer Haut, als ich ihr das Haar in den Kragen gesteckt habe.
»Sie weiß es noch nicht besser«, sagt Dory Maud. »Aber ein Mädchen wie sie braucht einen Mann, der mit beiden Beinen fest im Leben steht. Einen Mann, der sie am Boden hält, damit sie nicht davonfliegt. Sie weiß noch nicht, dass man jemanden wie Sie besser aus der Ferne bewundert.«
Ich höre ihrer Stimme an, dass sie es nicht böse meint. Trotzdem erwidere ich: »Jemanden, der sie so am Boden hält, wie Sie gehalten werden?«
»Ich halte mich selbst am Boden«, faucht Dory Maud. »Ich denke, wir wissen beide, wem Ihre wahre Liebe gilt, und dieses Rennen ist eine eifersüchtige Liebhaberin.«
Erst jetzt erkenne ich in ihrer Stimme, dass sie aus Erfahrung spricht. Aber sie hat mich falsch eingeschätzt, denn meine Liebe gilt nicht dem Rennen.
In dem Moment kommt Puck zu uns herüber, im Gesicht noch das triumphierende Lächeln über ihren gewonnenen Streit. »Dory!«
»Nehmt euch in Acht, wenn ihr da runtergeht«, sagt Dory Maud, dann stößt sie noch ein missmutiges Brummen aus und lässt uns stehen. Puck murmelt etwas über launische Menschen.
»Hast du es dir anders überlegt?«, frage ich.
»Ich überlege mir nie etwas anders«, erwidert sie.
Der Strand ist genauso schlimm, wie ich befürchtet habe. Der Him-
mel hängt tief über dem Sand und immer wieder klatscht uns Regen ins Gesicht wie Meeresgischt. Von unserem Aussichtspunkt auf den Klippen sehe ich den wütenden Ozean, die Capaill Uisce, die der Wind über den dunklen, nassen
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