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Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Unverhohlener Stolz liegt in Norman Falks Stimme. »Wir haben Sean Kendrick gebeten, sie wieder dem Meer zu übergeben, und er hat Ja gesagt. Wir wollen es richtig machen, für Tommy.«
    So höflich wie möglich, als hätte nicht Sean Kendricks Name meine Neugier geweckt, frage ich: »Dem Meer übergeben, Sir?«
    Norman Falk spuckt hinter sich, mit Schwung, um nicht den Jungen an seiner Seite zu treffen, und wendet sich dann wieder dem Scheiterhaufen zu. »Ja, er soll sie wieder freilassen, wie es sich gehört. Aus Respekt den Toten gegenüber, so wie es immer schon gemacht wurde. Aus Respekt den Capaill gegenüber. Hier geht's nicht um die Touristen oder irgendwelche Geldscheffelei. Nur um die Capaill Uisce und uns, und alles andere würde es zu einer ziemlich schäbigen Angelegenheit machen.« Dann scheint ihm wieder einzufallen, mit wem er da redet, denn als Nächstes sagt er: »Der Strand ist kein Ort für dich, Puck Connolly. Und für deine Stute auch nicht. Glaub mir. Ich kannte deinen Vater und ich mochte ihn gern, aber wenn du mich fragst, ist das, was du da vorhast, falsch.«
    Ich schäme mich aus einem Grund, der mir nicht ganz klar ist, und bin im nächsten Moment wütend auf mich, weil ich mich schäme. »Ich will nicht respektlos sein.«
    Norman Falks Stimme ist freundlich. »Natürlich willst du das nicht. Du hast eben keine Mum und keinen Dad, die es dir verbieten könnten. Aber dein Pferd ist nur ein Pferd und das ist das Problem. Wenn das Skorpio-Rennen nur ein ganz normales Pferderennen wäre, dann wäre das alles hier«, Norman Falk deutet ruckartig mit dem Kinn auf die Flammen, »doch bloß eine verfluchte Verschwendung und sonst gar nichts.«
    Noch vor zwei Wochen hätte ich ihn für verrückt erklärt, überzeugt
    davon, dass es selbstverständlich nur um das Pferderennen, das Geld, den Nervenkitzel geht. Und wenn ich nur ein paar Tage lang beim Training am Strand zugesehen hätte, würde ich höchstwahrscheinlich immer noch so denken. Doch jetzt, nachdem ich so viel Zeit mit Sean Kendrick verbracht habe, nachdem ich auf Corrs Rücken gesessen habe, scheint sich irgendetwas in mir verändert zu haben. Ich bin nicht sicher, ob das Ganze Tommys Leben wert war. Aber ich kann den Reiz nachvollziehen, einen Fuß an Land und einen Fuß im Meer zu haben. Ich habe Thisby noch nie so gut gekannt wie seit wenigen Wochen.
    Der Junge sagt etwas zu Norman Falk, der antwortet: »Er bringt sie gerade herunter. Siehst du?«
    Der Junge und ich wenden beide den Kopf und da ist Sean, der einen der schmalen Pfade zum Strand herunterkommt. Neben sich führt er Tommys schwarze Stute und im Vergleich zu Corr wirkt sie geradezu zerbrechlich unter seinen Händen. Sean ist nicht besonders feierlich oder ungewöhnlich gekleidet, sondern trägt dieselbe blauschwarze Jacke wie immer, den Kragen hochgeschlagen. Ich spüre eine seltsame, heftige Regung in meinem Herzen, etwas wie Stolz, obwohl nichts an Sean und seinem Auftreten mein Verdienst ist. Er führt die schwarze Stute über den Sand auf uns zu und hält nur kurz inne, als sie sich leicht aufbäumt und ein Wiehern von sich gibt, so zart wie der Schrei eines Vogels.
    Die Trauergemeinde versammelt sich um das Feuer, um zu beobachten, wie Sean die Stute zum Wasser führt. Erst jetzt fällt mir auf, dass er barfuß ist. Die Brandung umspült seine Knöchel und durchnässt den Saum seiner Hose. Die Stute hebt ihre Vorderhufe, als sie das Wasser um ihre Fesseln spürt, und schreit aufs Meer hinaus. Ihre Augen wirken schon nicht mehr vollkommen so wie die eines Pferdes. Als sie nach Sean schnappt, duckt er sich bloß aus ihrer Reichweite, gräbt die Finger in ihren Schopf und zieht ihren Kopf herunter. Ich sehe, wie sich sein Mund bewegt, aber es ist unmöglich zu hören, was er zu ihr sagt.
    Neben mir murmelt Tommys Vater: »Die See hat's gegeben, die See hat's genommen«, und mir wird klar, dass dies die Worte sind, die zu Seans Mundbewegungen passen.
    Ich frage mich, wie oft dieser Moment wohl schon stattgefunden hat. In dem nicht Sean, sondern irgendjemand anderes die Worte ausgesprochen hat. Es ist wie in jenem Moment auf dem blutbespritzten Felsen, auf dem ich Dove zu meinem Pferd für das Rennen erklärt habe. Ich spüre, wie Thisby meine Beine in den Boden zu ziehen scheint, die unsichtbare Gegenwart Tausender solcher Rituale, die meine Knöchel beschweren.
    Sean wendet sich zu der Gruppe um und ruft: »Die Asche.«
    Ein anderer Junge – wahrscheinlich ein weiterer

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