Rot wie das Meer
mein Gehirn nach irgendeiner schlagfertigen Bemerkung, doch ich stoße auf nichts als Gereiztheit darüber, dass ein siebzehnjähriger Junge sich noch immer über etwas schlapplachen kann, was er als Elfjähriger lustig fand. Also sage ich bloß grimmig: »Ich habe heute Abend keine Zeit für solchen Quatsch, Joseph Beringer!«
Das gilt zwar eigentlich für jeden Abend, aber für heute besonders. Immerhin werde ich mich gleich für das Rennen anmelden. Finn hat großzügigerweise angeboten, Dove für mich zu füttern, weil ich so in Eile war. Als ich mich auf den Weg gemacht habe, hat er auf den Eimer gestarrt, als wäre das die komplizierteste Erfindung, die er je gesehen hat.
Neben mir brabbelt Joseph immer noch irgendetwas davon, dass ich ins Bett gehöre – er hat sich schon immer gern ein Thema vorgenommen und bis zum Erbrechen ausgereizt, wenigstens muss man sich bei ihm keine Sorgen machen, dass man irgendwelche subtilen Anspielungen verpasst –, aber ich kümmere mich nicht um ihn und steuere auf den Eingang von Gratton, der Fleischerei, zu. Während ich an all den Menschen vorbeilaufe, unter denen sogar schon einige Touristen sind, muss ich daran denken, wie Mum immer gesagt hat, dass wir das Rennen brauchen, dass die Insel ohne es tot wäre.
Na ja, heute Abend jedenfalls strotzt die Insel vor Leben.
In der Fleischerei herrscht ein heilloses Chaos und ununterbrochen strömen Menschen zur Tür hinaus. Ich muss mir mit den Ellbogen einen Weg bis zum Eingang bahnen. Ich möchte nicht behaupten, die Einwohner von Skarmouth hätten generell keine Manieren, aber Bier macht Menschen nun mal so gut wie taub. Im Laden ist es furchtbar laut und eine gewundene Warteschlange säumt die Wände. Die niedrige Decke wirkt beengend, mit ihren nackten Balken so dicht über den Köpfen der Leute. Ich habe noch nie so viele Menschen hier drin gesehen. Auf eine makabre Art scheint es naheliegend, dass ausgerechnet der Schlachterladen die offizielle Anlaufstelle für das Rennen ist, weil alle Reiter hier das Futter für ihre Pferde besorgen.
Nur ich nicht.
Ich sehe Thomas Gratton sofort, der an der gegenüberliegenden Seite des Raums gerade jemandem etwas ins Ohr brüllt. Seine Frau Peg steht hinter dem Tresen, lächelnd und plaudernd, in der Hand ein Stück Kreide. Thomas mag zwar der eigentliche Inhaber des Ladens sein, aber Dad hat immer gesagt, dass Peg hier die Hosen anhat. Jeder Mann in Skarmouth ist heimlich in sie verliebt. Laut Dads Theorie lieben sie Peg dafür, dass sie ihnen, ohne mit der Wimper zu zucken, das Herz herausschneiden könnte. An ihrem Aussehen kann es jedenfalls nicht liegen. Einmal habe ich Gabe sagen hören, selbst Mutt Malvern hätte größere Titten als Peg. Was möglicherweise sogar stimmt, aber ich weiß noch genau, wie schockiert ich war, meinen Bruder etwas so Vulgäres und Gemeines sagen zu hören, denn was kann ein Mädchen schließlich für die Größe seiner Brüste?
Ich stelle mich in die Schlange von Leuten, die alle nach vorne zum Tresen wollen, wo Peg ihre Namen an die Tafel schreibt. Vor mir steht ein Mann mit einer mattblauen Jacke und einem Hut und sein breites Kreuz nimmt mir komplett die Sicht. Ich fühle mich wie ein Kleinkind in diesem Raum voller Fleischerhaken. Thomas Gratton brüllt in die Menge, in seinem Laden gefälligst nicht zu rauchen, und die Männer grölen lachend zurück, dass sie ihm so schließlich helfen würden, seinen Schinken zu räuchern.
Ich werde immer unsicherer und weiß plötzlich nicht mehr, was ich in dieser Schlange eigentlich verloren habe. Mir ist, als würden mich alle anstarren. Am Tresen werden Wetten abgeschlossen. Vielleicht habe ich mich ja geirrt und das Ganze hier hat überhaupt nichts mit der Anmeldung für das Rennen zu tun. Vielleicht erlauben sie mir auch gar nicht, mich mit Dove anzumelden. Das einzig Positive ist, dass ich Joseph Beringer nicht mehr am Hals habe.
Ich trete hinter dem Riesen hervor und werfe einen Blick auf die Tafel. Ganz oben steht JOCKEYS und rechts daneben CAPAILL. Irgendjemand hat in kleinen Buchstaben Hackfleisch neben JOCKEYS geschrieben. Auf die oberste Zeile folgt eine Lücke und darunter beginnen die Namen. Unter JOCKEYS stehen mehr Namen als unter CAPAILL. Ich erwäge kurz, mich bei dem Hünen neben mir zu erkundigen, woran das liegt. Ich frage mich, ob Joseph es wohl weiß. Dann frage ich mich, ob Gabe mittlerweile zu Hause ist. Und als Nächstes, ob Finn schon herausgefunden hat, wie ein Eimer
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