Rot wie das Meer
funktioniert. Aber ich habe keine Ruhe, über irgendetwas davon lange nachzudenken.
Und dann sehe ich ihn. Einen dunkelhaarigen Jungen, der nur aus Ecken und Kanten zu bestehen scheint. Er ist der Nächste in der Schlange vor dem Tresen, schweigend und reglos steht er da in seiner
blau-schwarzen Jacke, die Arme vor der Brust verschränkt. Er wirkt hier drinnen fehl am Platz, wie ein wildes Tier: stechender Blick, den Kragen im Nacken hochgeschlagen, das Haar noch windzerzaust vom Strand. Er sieht niemanden an, aber er weicht auch keinem Blick aus; er steht bloß da und starrt zu Boden, in Gedanken offenbar weit weg vom Fleischerladen. Im ganzen Raum herrscht ein fürchterliches Gerempel. Aber niemand rempelt ihn an, obwohl es auch nicht so scheint, als würden sie es bewusst vermeiden. Es wirkt schlicht, als wäre er nicht am selben Ort wie der Rest von uns.
»Sieh an, Puck Connolly«, sagt eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und sehe einen älteren Mann, der nicht in der Schlange steht, sondern bloß uns andere, die es tun, beobachtet. Ich glaube, sein Name ist Reilly oder Thurber oder so ähnlich. Ein alter Freund meines Vaters, aber das ist so lange her, dass ich seinen Namen nicht weiß. Er ist ein verhutzeltes Männlein und die Falten in seinem Gesicht sind so tief, dass Möwen darin nisten könnten. »Was machst du denn heute hier?«
»Dabei sein«, erwidere ich, denn das ist eine Antwort, gegen die niemand etwas sagen kann. Ich blicke wieder nach vorn zu dem Jungen am Tresen. Er dreht den Kopf ein wenig, und als ich sein Profil sehe, glaube ich ihn wiederzuerkennen: den Reiter auf dem roten Hengst am Strand. Irgendetwas an seinem Gesicht und seinem vom Wind zerzausten Haar lässt mein Herz einen Klopf-klopf-Pause- Rhythmus schlagen.
»Puck Connolly«, sagt der alte Mann wieder. »Den da solltest du nicht so anstarren.«
Diese Bemerkung ist zu verheißungsvoll, um sie zu überhören. »Wer ist das?«
»Sean Kendrick natürlich«, antwortet der alte Mann und ich hebe die Augenbrauen, als ich mich vage erinnere, den Namen schon gehört zu haben. Wie irgendein Detail, von dem man ein paarmal im Geschichtsunterricht gehört hat und das einem seitdem nie wieder begegnet ist. »Gibt keinen, der ein besseres Händchen für Pferde hat
als er. Reitet jedes Jahr das Rennen mit und ich würd sagen, er ist der Favorit. Immer schon gewesen. Aber der Kerl hat einen Fuß an Land und einen im Meer. Solltest dich besser von ihm fernhalten.«
»Habe ich auch vor«, entgegne ich, obwohl ich mir da nicht ganz sicher bin. Ich mustere den Jungen erneut und ordne ihm seinen Namen zu. Sean Kendrick.
Jetzt tritt er an die Theke und Peg schenkt ihm ein breites Lächeln –ein bisschen zu breit, um natürlich zu wirken, so als wolle sie ein Exempel statuieren. Ich verstehe nicht, was sie sagt, aber ich kann trotzdem nicht aufhören, die beiden anzustarren, während er sich leicht zu ihr vorbeugt, seine verschränkten Arme löst und seine Worte mit einer kleinen Geste untermalt. Er hält zwei Finger hoch und lässt sie dann zweimal auf dem Tresen auftippen, als würde er etwas zählen. Ich sehe ihm an, dass zumindest er nicht in Peg Gratton verliebt ist. Ich frage mich, ob er nicht weiß, dass sie ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, das Herz herausschneiden könnte, oder ob es ihn nur einfach nicht interessiert.
Peg dreht sich mit der Kreide in der Hand um, streckt den Arm ganz nach oben und mir wird klar, dass die Zeile direkt unter den JOCKEYS mit Absicht freigelassen wurde, als Peg, ohne zu zögern, über alle anderen Namen Sean Kendrick auf die Liste schreibt. Hier und da erhebt sich in der Menge verhaltener Jubel, als sie den Arm wieder herunternimmt. Sean Kendrick lächelt nicht, aber ich sehe, wie er ihr zunickt.
Einer der anderen Männer zieht ihn beiseite, um mit ihm zu reden, und die Schlange bewegt sich vorwärts. Ich bin meiner Anmeldung zum Rennen einen Schritt näher. Meine Eingeweide führen ein kleines Tänzchen in mir auf. Noch einen Schritt. Ich frage mich, ob es an der Aufregung liegt oder an der erdrückenden Wärme all der Menschen um mich herum, dass mir ein bisschen schwummrig zumute ist. Noch einen Schritt.
Mein Magen fühlt sich an wie ein sturmgepeitschter Ozean, als der Mann vor mir eine Wette abschließt. Dann bin ich an der Reihe.
Peg lächelt mich an, wie sie jeden anlächelt. Sie sieht kein bisschen
furchterregend aus. Sondern ganz normal und freundlich. »Hallo, Liebes, was soll's denn
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