Rot wie das Meer
hebt den Kopf und zieht die Lippen zurück.
Ich ziehe hart an seinem Führstrick und presse ihm den Eisenstab gegen die Brust, bevor er einen Laut von sich geben kann. Solange er sich unter meiner Kontrolle befindet, wird er nicht ihr Lied singen.
Als wir den Strand hinauf zurück zur Bootsrampe gehen, sehe ich die Umrisse mehrerer Personen auf der Straße Richtung Skarmouth. Sie stehen ganz am Rand, wo die Klippe auf den Himmel trifft, schwarz vor dunkelrot. Trotz der Entfernung erkenne ich die unverwechselbar massige Silhouette von Mutt Malvern. Sie scheinen äußerst interessiert an dem, was ich hier unten treibe, also bin ich auf der Hut, während ich weiterlaufe.
Es dauert nicht lange, bis ich entdecke, dass Mutt Malvern in meine Stiefel gepinkelt hat.
Von der Klippe ertönt Gelächter. Ich werde Mutt nicht die Genugtuung verschaffen, ihm meinen Ekel zu zeigen, also kippe ich meine Stiefel aus – der Strand ist viel zu schade für seinen Urin – und knote sie an den Schnürsenkeln zusammen, sodass ich sie über Corrs Sattel
hängen kann. Dann mache ich mich auf den Weg den Abhang hinauf. Es ist schon fast dunkel, aber ich muss noch einiges erledigen; bis zehn Uhr muss ich bei Gratton gewesen sein. Der Tag erstreckt sich unsichtbar vor mir in die Dunkelheit.
Wir klettern landeinwärts.
Meine Stiefel stinken nach Pisse.
10
Puck Es ist lange her, dass ich nach Einbruch der Dunkelheit in Skarmouth gewesen bin, und ich muss an den Tag denken, als Dad sich die Haare abschneiden ließ. Die ersten Jahre meines Lebens hatte Dad dunkle Locken, die genauso waren wie ich – das heißt, Dad sagte ihnen jeden Morgen als Allererstes, was sie zu tun hätten, und sie machten trotzdem, was sie wollten. Eines Tages, als ich sieben war, kam Dad mit kurz geschorenen Haaren von der Arbeit an den Docks zurück, und als ich ihn zur Tür hereinmarschieren und Mum einen Kuss geben sah, fing ich an zu weinen, weil ich ihn für einen Fremden hielt. Und genauso geht es mir mit Skarmouth nach Einbruch der Dunkelheit: Es ist ein völlig anderes Skarmouth, als ich es mein Leben lang gekannt habe, und von ihm möchte ich in der näheren Zukunft keinen Kuss bekommen. Die Nacht taucht die gesamte Stadt in dunkles Blau. Die Gebäude stehen dicht gedrängt, pressen sich an die Felsen und blicken auf das unendliche Schwarz des Hafenbeckens herab. Die Straßenlaternen werfen helle Lichthöfe; kleine Papierlampions winden sich an Drähten die Telefonmasten empor. Sie erinnern mich an Weihnachtsbeleuchtung oder Glühwürmchen, so wie sie sich vor der fahlen Silhouette der St.-Columba-Kirche in den Himmel schrauben. Ein Heer von Fahrrädern lehnt an den Hauswänden und am Straßenrand parken mehr Autos, als ich auf der ganzen Insel vermutet hätte; in ihren Windschutzscheiben spiegelt sich das Licht der Straßenlaternen. Die Autos haben fremde Männer ausgespien, die Fahrräder halbfremde Jungen hergetragen. So viele Menschen habe ich bisher nur an Jahrmarkttagen auf den Straßen gesehen.
Es ist faszinierend und verstörend zugleich. Ich fühle mich verloren, dabei bin ich nur in Skarmouth. Keine Ahnung, wie Gabe sich auf dem Festland zurechtfinden will.
»Puck Connolly«, ruft eine Stimme, von der ich weiß, dass sie Joseph Beringer gehört. »Solltest du nicht längst im Bett sein?«
Ich stelle Finns Fahrrad so nah wie möglich bei der Fleischerei ab und lehne es an das Metallgeländer, das verhindern soll, dass man ins Hafenbecken fällt, es sei denn, man legt es ernsthaft darauf an. Das Wasser riecht heute Abend eigenartig und ziemlich stark nach Fisch und ich halte Ausschau nach Fischerbooten, die den Geruch erklären würden. Doch dort unten ist nichts zu sehen als schwarzes Wasser und Lichtspiegelungen, die den Eindruck erwecken, unter dem Salzwasser läge ein zweites, versunkenes Skarmouth.
Joseph ruft noch irgendetwas, dem ich keine Beachtung schenke. In gewisser Weise bin ich sogar ganz froh, dass Joseph sich mal wieder wie der letzte Depp aufführt, denn mit diesem Benehmen gehört er auf der Insel so untrennbar zum Inventar, dass mir gleich alles viel vertrauter erscheint.
Mein Kopf ruckt nach hinten, als Joseph an meinem Pferdeschwanz zieht. Ich wirbele zu ihm herum, die Hände in die Hüften gestemmt. Er schenkt mir sein zu breites Grinsen. Sein Gesicht unterhalb der blonden Haare ist picklig. Er spitzt die Lippen zu einem lautlosen Pfeifen, so als wäre er überwältigt, dass ich ihn überhaupt beachte.
Ich durchforste
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