Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Rot wie das Meer

Titel: Rot wie das Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
Vom Netzwerk:
Pferde bekannt geben müssen.
    Dann fängt das Leben an.
    Corr hebt den Kopf, die Ohren aufgestellt, den Hals gewölbt, als wollte er der Skorpio-See huldigen. Ich flüstere ihm etwas ins Ohr und rucke an seinem Führstrick. Er soll seine Aufmerksamkeit mir widmen, nicht dem betörenden Gesang des Meeres. Ich betrachte seine Augen, seine Ohren, seine Körperhaltung, um abzuschätzen, wessen Stimme an diesem Abend mehr Macht auf ihn ausüben wird, meine oder die des Ozeans.
    Er wendet mir so abrupt den Kopf zu, dass ich einen Eisenstab aus der Tasche gezogen habe, bevor er die Bewegung vollendet hat. Aber es war kein Angriff, er wollte mich lediglich mit seinem gesunden Auge mustern.
    Ich traue Corr mehr als jedem anderen von ihnen.
    Ich sollte ihm überhaupt nicht trauen.
    Die Muskeln in seinem Hals sind locker, auch wenn die Haut um seine Augen angespannt ist, und so wagen wir uns in die Brandung. Ich keuche auf, als das kalte Wasser meine Knöchel umspült. Dann bleiben wir stehen und ich beobachte ihn, um zu sehen, welche Wirkung die strudelnde Magie um seine Fesseln entwickelt. Er erschaudert, aber seine Muskeln bleiben entspannt; wir haben das hier schon viele Male zuvor gemacht und der Monat ist noch jung. Ich schöpfe mit der hohlen Hand Salzwasser und lasse es über seine Schulter rinnen, flüstere weiter, die Lippen auf seiner Haut. Er steht absolut still.
    Also tue ich es ihm gleich und lasse die sanddurchsetzten Wellen meine müden Füße umschmeicheln.
    Corr, so rot wie der Sonnenuntergang, blickt aufs Meer hinaus. Wir sind an der Ostküste und so sieht er vor sich die Nacht, erst tiefblau, dann schwarz, die Wasseroberfläche ein Spiegelbild des Himmels. Auch unsere Schatten fallen auf das Meer und wechseln die Farbe mit jeder schaumgekrönten Welle. Als ich Corrs Schatten betrachte, sehe ich einen eleganten Riesen. Als ich meinen betrachte, sehe ich zum ersten Mal meinen Vater. Nicht ganz meinen Vater. Meine Schultern haben nicht diese leichte Krümmung, als wären sie gegen die andauernde Kälte hochgezogen. Und sein Haar war länger. Aber ich erkenne ihn in der kerzengeraden Haltung wieder, dem stets erhobenen Kinn, ein Reiter selbst auf dem Boden.
    Ich hänge meinen Gedanken nach und so trifft mich Corrs Bewegung unvorbereitet. Bevor ich reagieren kann, ist er schon halb gestiegen, dann aber lässt er die Vorderhufe wieder an dieselbe Stelle zurücksinken, wo sie sich aus der Brandung gehoben haben, und spritzt mir dabei einen ordentlichen Schwall Wasser ins Gesicht. Ich stehe bloß da, Salz in meinem Mund, und sehe, dass seine Ohren in meine Richtung gedreht sind, der Hals gewölbt.
    Zum ersten Mal seit Tagen muss ich lachen. Wie als Antwort darauf schüttelt Corr Hals und Kopf wie ein nasser Hund. Ich gehe ein paar Schritte rückwärts im Wasser und er folgt mir, dann mache ich einen Satz auf ihn zu und schaufele ihm mit dem Fuß einen Schwall Wasser gegen die Brust. Er zuckt zusammen und wirft mir einen zutiefst gekränkten Blick zu, bevor er seinen Huf ins Wasser platschen lässt, um es mir heimzuzahlen. So schleichen wir umeinander, vor und zurück – doch ich wende ihm kein einziges Mal den Rücken zu. Er tut so, als würde er trinken, nur um im nächsten Moment gespielt angewidert die nasse Mähne zu schütteln. Ich tue so, als würde ich Wasser schöpfen, und klatsche es ihm an die Flanke.
    Nach einer Weile bin ich außer Atem, die Kieselsteinchen haben meine Füße wund gescheuert und das Wasser ist so kalt, dass ich es
    kaum noch aushalte. Ich gehe zu Corr und er senkt den Kopf und drückt sein Gesicht gegen meine Brust; ich spüre seine Wärme durch mein durchnässtes Hemd. Ich zeichne einen Buchstaben in das Fell hinter seinen Ohren, damit er ruhiger wird. Dann fahre ich mit den Fingern durch seine Mähne, um selbst ruhig zu werden.
    Nicht weit von uns höre ich ein Platschen. Vielleicht ein Fisch, obwohl es ein ziemlich großer sein müsste, damit ich ihn über das Rauschen der Brandung hinweg höre. Ich blicke auf das Meer hinaus, das sich langsam zu tiefem Schwarz verfärbt.
    Ich glaube nicht, dass es ein Fisch gewesen ist, genauso wenig wie Corr, der nun wieder zum Horizont starrt. Er zittert, und als ich ihn schließlich aus dem Wasser führen will, dauert es lange, bis ich ihn davon überzeugen kann, mir zu folgen. Er macht einen langsamen Schritt, dann noch einen, bis er schließlich aus dem Wasser heraus ist, dann bleibt er mit steifen Beinen stehen. Er dreht sich zum Meer um,

Weitere Kostenlose Bücher