Rot wie das Meer
drohen, dass er seinen Job verlieren wird, ist eine ernste Angelegenheit. Es ist noch nicht einmal meine Arbeit, die hier auf dem Spiel steht, und trotzdem spüre ich ein elendes Gefühl im Magen, wie jedes Mal, wenn ich den Küchenschrank öffne und unsere spärlichen Vorräte sehe.
»Wenn du meinst«, erwidert Sean ruhig. Dann folgt eine lange Pause, in der nur die gedämpften Stimmen aus der Fleischerei zu hören sind. »Ich habe gesehen, dass du dich für das Rennen angemeldet hast. Aber neben deinem Namen steht kein Pferd. Woran liegt das wohl, Mutt?«
Mutts Gesicht läuft dunkelrot an.
»Vielleicht«, fügt Sean hinzu und seine Stimme ist so leise, dass wir anderen die Luft anhalten, um zu verstehen, was er sagt, »liegt es ja daran, dass dein Vater mich eins für dich aussuchen lässt, so wie jedes Jahr.«
»Du brauchst dich gar nicht so aufzuspielen«, entgegnet Mutt. »Du bist nicht besser als ich. Immer lässt mein Vater zu, dass du die hinterletzten Klepper für mich aussuchst. Die ältesten, klapprigsten Gäule,
nur das beste Pferd, das behältst du natürlich für dich. Ich hab dazu ja nichts zu sagen, sonst würde nämlich ich den roten Hengst reiten. Aber dieses Jahr lasse ich mir nicht wieder so eine Niete unterjubeln.«
Die Ladentür geht auf und Dr. Halsal, jetzt gefolgt von Thomas Gratton, tritt nach draußen. Die beiden bleiben vor der Tür stehen und Thomas Gratton wischt sich die Hände an seiner Fleischerschürze ab, während er sich einen Überblick über die Situation verschafft. Sean Kendricks ruhige Stimme verleiht dem Streit eine leisere, aber gleichzeitig bedrohlichere Nuance – ein stiller nächtlicher Ozean voll zurückgehaltener Kraft. Die Luft zwischen Sean Kendrick und Mutt Malvern ist wie elektrisch aufgeladen.
»Jungs«, sagt Thomas Gratton schließlich, und obwohl seine Stimme beschwichtigend klingt, merke ich, dass er auf der Hut ist. »Ich glaube, es wird Zeit, dass ihr beide nach Hause geht.«
Als hätte Thomas Gratton niemals etwas gesagt, lehnt Sean sich plötzlich zu Mutt hinüber und zischt: »Ich habe dich fünf Jahre lang an diesem Strand am Leben gehalten. Weil dein Vater es von mir erwartet, und genauso wird es auch weitergehen. Du wirst das Pferd reiten, das ich dir aussuche.«
Er nickt Gratton kurz zu und wirkt plötzlich alt, als er sich abwendet und davonmarschiert. Hinter seinem Rücken macht Mutt eine obszöne Geste. Als Mutt bemerkt, wie Gratton ihn ansieht, lässt er die Hand ganz langsam sinken und vergräbt sie in der Tasche.
»Matthew«, sagt Gratton. »Es ist spät.«
Dr. Halsal blickt in meine Richtung. Seine Augen sind schmal, so als versuche er, sich einen Reim auf das zu machen, was er sieht, doch bevor er etwas sagen kann, mache ich mich auf den Weg zu Finns Fahrrad. Ich sollte mich sowieso auf den Rückweg machen. Wie Thomas Gratton gesagt hat, es ist spät. Und morgen muss ich früh aufstehen.
Sean Kendrick kenne ich kaum, was gehen mich da seine Sorgen an? Er ist nur ein Reiter in dem Rennen, genau wie alle anderen.
11
Puck In dieser Nacht träume ich davon, wie Mum mir das Reiten beibringt. Ich sitze vor ihr im Sattel, an sie geschmiegt, als wären wir eins, ihre Arme um meine Taille. Ihre Finger sind genauso kurz wie meine, man sieht die Ähnlichkeit – meine Hände, zu Fäusten geballt, klammern sich in die Mähne des Ponys, ihre halten locker die Zügel. Es regnet nicht, aber es ist auch nicht sonnig, sondern irgendetwas dazwischen, wie so oft hier auf Thisby. Der Schweiß des Himmels lässt meine Hände klebrig werden.
»Du musst keine Angst haben«, sagt sie zu mir. Der Wind weht mir ihr Haar ins Gesicht und meins in ihres. Es hat dieselbe Farbe wie das herbstlich rote Gras auf den Klippen, das sich elastisch zum Boden neigt und dann wieder aufrichtet. »Die Thisby-Ponys lieben es zu laufen. Aber man bekommt leichter eine Seepocke von einem Felsen als eine Keown-Frau aus dem Sattel.« Ich glaube ihr, denn sie wirkt wie ein Zentaur, so als wäre sie selbst Teil des Ponys. Die Vorstellung, dass eine von uns beiden vom Pferd fallen könnte, scheint völlig unmöglich.
Ich wache auf. Ich erinnere mich an das Geräusch der zuklappenden Haustür und bin sicher, dass es das ist, was mich geweckt hat. Ich liege da und starre ins Nichts, weil es zu dunkel im Zimmer ist, um etwas sehen zu können, warte darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, oder warte darauf, wieder einzuschlafen. Schnell wische ich mir die Tränen
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