Rot wie das Meer
Holly. Er lacht wieder, und als sein Lachen sich zu entfernen scheint, wird mir klar, dass er stehen geblieben ist. Ich drehe mich um.
»Ich glaube, Sie haben recht, Mr Kendrick«, sagt George Holly, die Augen geschlossen. Er hat sein Gesicht dem Wind zugewandt und lehnt sich leicht nach vorn, damit die Bö ihn nicht von den Füßen reißt. Seine Hose sieht nicht mehr so makellos aus wie zuvor; auf der Vorderseite sind Spuren von Matsch und Dung. Seine alberne Mütze ist ihm vom Kopf geflogen, aber er scheint es gar nicht zu bemerken. Der Wind gräbt seine Finger in sein helles Haar und der Ozean singt zu ihm. Diese Insel holt sich jeden, wenn er es nur zulässt.
»Womit habe ich recht?«, hake ich nach.
»Ich kann Gott hier draußen spüren.«
Ich wische mir die Hände an den Hosenbeinen ab. »Sagen Sie das noch einmal«, erwidere ich, »wenn Sie in zwei Wochen die Toten am Strand gesehen haben.«
Holly öffnet die Augen nicht. »Na, wenn dieser Sean Kendrick kein Optimist ist.« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Ich kann spüren, dass Sie lächeln, also streiten Sie es nicht ab.«
Er hat recht, deswegen versuche ich es erst gar nicht.
»Also, werden Sie sich wegen dieses Pferdes noch mal ein bisschen Mühe bei Benjamin Malvern geben oder nicht?«, fragt er.
Wieder sehe ich Kate Connolly mit unerschrockenem Gesicht Eaton gegenüberstehen, wie ein Menschenopfer auf dem alten Felsenschrein. Wieder spüre ich den Atem der Pferdegöttin auf meinem Gesicht und er riecht nach Donner.
»Ja«, sage ich.
34
Puck Ich mache mir nicht die Mühe, Dove am Sonntag nach der Kirche aufzuzäumen. Nach der Messe wird wahrscheinlich so ziemlich jeder sein Capaill satteln und runter zum Strand bringen und das könnte für mich eine gute Gelegenheit sein, etwas über meine Gegner herauszufinden. Vielleicht reite ich Dove dann heute Abend auf den Klippen, wenn sie den ganzen Tag Zeit gehabt hat, teures Heu zu fressen und sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass sie ab jetzt unglaublich schnell sein wird.
Finn und Gabe lasse ich zu Hause zurück – Gabe war mit uns im Gottesdienst, obwohl er ununterbrochen auf die Uhr gesehen hat und mittendrin gegangen ist, woraufhin Pfarrer Mooneyham erst ihn angestarrt hat und dann uns. Pfarrer Mooneyhams Predigten sind nicht unbedingt darauf ausgelegt, einen zu quälen, aber leiden muss man trotzdem dabei. Wenn einem das Bein einschläft, rührt man sich nicht. Wenn nach dem Tee, den man am Morgen getrunken hat, der Weg nach Damaskus plötzlich von Toiletten gesäumt ist anstatt von Epiphanien, beißt man die Zähne zusammen und erträgt es. Wenn man Brian Carroll ist und die ganze Nacht zum Fischen draußen war, legt man den Kopf in den Nacken, damit es nicht vollkommen unmöglich ist, die Augen offen zu halten.
Aber man steht nicht auf und geht. Außer Gabe. Und kurz darauf auch Beech Gratton. Wenn Tommy Falk nicht von vornherein zu schön gewesen wäre, um überhaupt zur Kirche zu kommen, wäre höchstwahrscheinlich er der Nächste gewesen.
Und jetzt muss ich auf jeden Fall zur Beichte, denn ich habe nicht
nur schlecht über meinen Bruder gedacht, sondern das auch noch während des Gottesdienstes. Der Gedanke, dass ich, wenn ich in den nächsten paar Stunden sterben sollte, mit Sicherheit in der Hölle lande, ist nicht angenehm, aber ich muss an den Strand, bevor die Flut kommt und alle Reiter wieder verschwunden sind.
Wenn ich draußen auf den Klippen über dem Rennstrand ankomme, ist alles andere sowieso vergessen. Denn obwohl ich in diesen windigen Höhen nicht gern reite, habe ich absolut nichts dagegen, eine Weile dort zu sitzen. Also stapfe ich los, auf dem Rücken eine zu einem Beutel zusammengenommene Wolldecke, deren Inhalt ich auf dem Boden ausleere, nachdem ich mir eine geschützte Nische gesucht habe, von der aus ich das Training unten am Strand beobachten kann. Dann wickle ich mir die Decke um die Schultern, trinke einen Schluck Tee aus meiner Thermoskanne und beiße in einen Novemberkuchen. Drei Stück davon habe ich heute Morgen im Ofen erhitzt, zusammen mit ein paar Steinen, die den Kuchen wunderbar warm gehalten haben. Ich komme mir sehr umsichtig und gut vorbereitet vor, als ich schließlich Papier, einen Stift und die Stoppuhr hervorhole, die Finn für mich aufgetrieben hat. Wenn ich nur lange genug hier sitzen bleibe, werden die Pferde mir irgendwann ihre Geheimnisse preisgeben. Ich will herausfinden, wie schnell sie sind, und dann werde ich Dove
Weitere Kostenlose Bücher