Rot wie das Meer
die gleiche Strecke laufen lassen und auch ihre Zeit nehmen. Wenn ich erst mal weiß, wie stark ich im Nachteil bin, kann ich vielleicht besser daran arbeiten.
So sitze ich etwa zehn Minuten da, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme. Ein paar Schritte neben mir setzt sich jemand hin, einen Arm auf das angezogene Knie gestützt.
»Scheint, als hättest du das Geheimnis des Siegens herausgefunden, Kate Connolly.«
Ich erkenne die Stimme, ohne hinzusehen, und mein Herz schlägt bumm bumm bu – bevor es sich überlegt, von vorne anzufangen, was aber nicht so recht klappt. »Ich habe doch gesagt, du kannst mich Puck nennen.«
Sean Kendrick sagt nichts mehr, aber er steht auch nicht auf. Ich frage mich, was er wohl denkt, während wir so dasitzen und die Pferde unten am Strand beobachten. Von hier oben sehen sie so anders aus: Das Training wirkt geordnet, ruhig, gezielt, kein bisschen wie das Chaos, als das ich es erlebt habe, während ich dort unten war. Selbst als zwei Pferde aufeinander losgehen und ihre Reiter ziemliche Mühe haben, die beiden wieder zu trennen, werden die Geräusche durch die Entfernung und den Wind gedämpft, wodurch die Szene sehr viel weniger bedrohlich wirkt. Spielzeugsoldaten.
Ich lasse Ian Privett nicht aus den Augen, der gerade auf seinem Schimmel – Penda – parallel zum Wasser galoppiert. Ich drücke eine Taste auf meiner Stoppuhr und mache mir eine Notiz.
»Er ist viel schneller«, bemerkt Sean Kendrick. »Später. Im Moment treibt er ihn nicht richtig an.«
Ich bin nicht sicher, ob ich in seiner Stimme Herablassung darüber höre, dass ich mir diese unnütze Zeit notiert habe, oder ob er mir aus purer Nettigkeit Informationen gibt, die ich ansonsten nie bekommen hätte. Also ziehe ich die Zahlen bloß noch einmal mit meinem Bleistift nach, bis sie tief ins Papier gedrückt sind. Ich will ihn fragen, warum er sich am Abend zuvor für mich eingesetzt hat, aber Mum hat immer gesagt, dass es unhöflich ist, nach Komplimenten zu fischen, und das hier würde sich genau danach anfühlen. Also frage ich nicht, obwohl ich es furchtbar gern wissen würde.
Was dazu führt, dass wir noch eine Weile länger schweigend dasitzen, während die Sturmböen schneidend durch meine Decke und Mütze fahren und an den Seiten meiner Notizen zerren. Ich greife neben mich nach einem der kostbaren Novemberkuchen – immer noch warm – und biete ihn Sean an.
Er nimmt ihn, ohne Danke zu sagen. Aber auf irgendeine Weise vermittelt er mir seinen Dank trotzdem. Auch wenn ich nicht ganz sicher bin, wie er es macht, denn ich habe ihm nicht ins Gesicht gesehen, als er den Kuchen nahm.
Nach einer Weile sagt er: »Siehst du die schwarze Stute dahinten?
Die von Falk? Die brennt regelrecht darauf, ein anderes Pferd zu verfolgen. An seiner Stelle würde ich sie immer kurz hinter der Spitze halten, damit sie motiviert bleibt. Und sie erst kurz vor Ende ganz nach vorne schicken.«
Ich blinzele zum Strand hinunter, um zu sehen, was er sieht. Dort unten herrscht ein riesiges Wirrwarr aus kleinen Wettrennen und abgebrochenen Galoppdistanzen. Ich mache Tommy und seine Rappstute aus und beobachte sie einen Moment. Sie ist ein graziles Tier mit zierlichen Beinen für ein Capaill Uisce und ihr Kopf wippt ein winziges bisschen auf und ab, wenn ihr linker Vorderhuf den Boden berührt. »Aber«, sage ich, einfach weil ich das Gefühl habe, etwas sagen zu müssen, »sie lahmt ein bisschen auf dem linken Vorderbein.«
»Auf dem rechten, würde ich sagen«, entgegnet Sean Kendrick, korrigiert sich dann aber. »Nein, dem linken, du hast recht.«
Und ich freue mich, obwohl er mir doch nur in etwas zustimmt, was ich schon längst wusste.
Erst jetzt traue ich mich, ihn zu fragen: »Warum reitest du nicht?« Ich blicke ihn sogar an, während ich die Frage stelle, und studiere sein hartes Profil. Seine Augen huschen hin und her, während er den Bewegungen unten am Strand folgt, der Rest von ihm aber bleibt völlig reglos.
»Sich auf ein Rennen vorbereiten bedeutet mehr als reiten.«
»Wonach hältst du Ausschau?«
Und wieder folgt eine quälend lange Pause zwischen meiner Frage und seiner Antwort, bis ich schon glaube, dass ich keine mehr bekommen werde, und schließlich ernsthaft überlege, ob ich die Frage überhaupt ausgesprochen oder nur gedacht habe. Dann kommt mir der Gedanke, dass ich ihn womöglich mit meiner Frage beleidigt habe, obwohl ich mich nicht mehr genau genug an meine Worte erinnere, um mir sicher
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