Rote Spur
Leben erschien ihr in diesem Augenblick irreal, als gehöre es zu jemand anders. Sie fühlte den Impuls, sich zu erheben |438| und ihr eigenes zu suchen. Am liebsten wäre sie aufgestanden, hätte die AK in der Luft geschwenkt, den Abzug gedrückt und die Bahn der Kugeln verfolgt, zierliche Bögen, Feuerwerksraketen, ein Fest.
Das Klopfen ihres Herzens brachte sie wieder zurück in die Realität, es schlug so schnell und heftig, dass das Pochen aus der Erde zu kommen schien und sie zu überwältigen drohte. Sie wusste, es war die Anspannung, zwei Tage voller Dauerstress, sie sah auf die Uhr, sechzehn Minuten vor zwei, sie erschrak, ein Schock durchfuhr ihren Körper, wo war die Zeit geblieben?
Halte dich einfach an den Plan, vergiss alles andere, bleibe wach und halte dich einfach an den Plan.
Das hier war nicht ihre Welt. Das wusste sie jetzt.
Vierzehn Minuten vor zwei.
Rajkumars Hände huschten über die Tastatur wie zwei Vögel. »Wir haben die Codes, wir haben die Codes, ich exportiere jetzt, starte die Dechiffrierung, sagt der Direktorin Bescheid!«
Und dann: »Scheiße!«
Die Techniker, sein handverlesenes Team, seine genialen Kollegen starrten ihn an.
»Hier sind E-Mails. Vielleicht brauchen wir die Dechiffrierung gar nicht, der Scheißkerl hat sie mit einem Passwort geschützt, wollen wir doch mal sehen, du Muslimbastard. Los, zeig, was du drauf hast …«
Die anderen lachten.
Er blickte nur flüchtig auf und sagte barsch und missgelaunt: »Holt die Direktorin, und zwar sofort!«
79
Um neun Minuten vor zwei traf das nächste Fahrzeug ein. Milla traute zunächst ihren Augen nicht – die Form, das Kennzeichen. Sie kroch weiter nach vorn und sah genau hin.
|439| Ein Krankenwagen. Er hielt vor dem Tor.
Aus der Dunkelheit kam ein Mann mit einem Gewehr in der Hand und öffnete die Torflügel.
Der Krankenwagen fuhr durch und hielt vor dem niedrigen Gebäude. Der kräftige Kerl näherte sich und sprach mit dem Fahrer. Dann ging er wieder weg und verschwand aus ihrem Gesichtsfeld.
Warum ein Krankenwagen?
Sechs Minuten vor zwei.
Janina Mentz sah auf den Bildschirm, wo in dem kleinen Programmfenster unlesbar schnell Dateinamen vorbeihuschten. Die Suche nach dem Passwort lief auf Hochtouren.
»Drei, vier Minuten«, versprach Rajkumar. »Wir haben es gleich.«
Das Telefon klingelte.
Rajkumar nahm ab und hörte zu. Er hielt die Hand über das Mikrofon, sah Janina an und sagte tief beeindruckt: »Der Direktor der CIA will Sie sprechen. Aus Langley. Über eine sichere Leitung.«
Sie musste sich dazu zwingen, auf die Uhr zu schauen, als Lukas schoss, sie musste sich die Zeit merken, sich konzentrieren.
Unten tat sich etwas.
Die hinteren Türen des Krankenwagens wurden geöffnet, ein gelblicher Lichtschein fiel nach draußen. Jemand bewegte sich im Innenraum. Die Gestalt eines Mannes, gebeugt über eine leere Trage. Er machte sich im Wagen zu schaffen. Dann setzte er sich auf die Bank neben dem Bett.
Ein Krankenwagen. Zur Tarnung. Dorthinein würden sie die Raketen laden. Niemand hielt einen Krankenwagen an.
Erleichterung, sie empfand Erleichterung, denn ein Rätsel war gelöst.
|440| »Bitte bleiben Sie am Apparat, ich verbinde mit dem Direktor der CIA«, sagte eine Frauenstimme.
Bevor Mentz reagieren konnte, meldete er sich: »Frau Direktorin?«
»Am Apparat.«
»Mir wäre es lieber gewesen, wenn wir uns zuerst persönlich und unter anderen Umständen kennengelernt hätten, bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an. Als Kollegin und Staatsdienerin hoffe ich auf Ihr Verständnis. Manchmal müssen wir auf Befehl handeln.«
»Ich verstehe Sie und nehme Ihre Entschuldigung an.«
»Danke, Madam. Ich muss Ihnen etwas im Hinblick auf die Fracht erklären, die an die Küste Ihres Landes gebracht wird, aber vorher muss ich Sie um einen Gefallen bitten. Würden Sie sich damit einverstanden erklären, AIC Burzynski als Begleitung mitzunehmen, wenn Sie eingreifen? Es wäre sehr wichtig für uns und unsere Regierung. Gleich werden Sie auch verstehen, warum.«
»Natürlich werde ich Bruno gerne mit einbeziehen.«
»Vielen Dank. Und jetzt möchte ich Ihnen …«
Plötzlich wurde es hell.
Vier Scheinwerfer tauchten das Gelände in ein sanftes Licht. Es waren die Zylinder, die die Männer aus dem Lieferwagen geholt hatten. Zwei standen unten am Kai, zwei an den Enden des Wellenbrechers, ganz in der Nähe von Lukas. Milla fuhr ein Stich durchs Herz und lähmte sie. Ihr Körper, ihre Arme
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