Rote Spur
gelungen.«
Erst dann sah er mich an. »Seit vierzehntausend Jahren steuern wir bereits auf das Chaos zu, Milla. Seit der Gründung der ersten Siedlung, des ersten Dorfes, der ersten Stadt. So langsam, dass niemand es bemerkt hat. Aber das ist vorbei. Inzwischen ist es zu einer heftigen Flutwelle geworden, überall. In Amerika, in Europa, hier, immer schneller, immer näher. In zehn, zwanzig, vielleicht auch erst in fünfzig Jahren wird sie uns verschlingen. Du hast es gesehen, du weißt es jetzt. Es wird dir noch leid tun, du wirst dich noch fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, in glücklicher Unwissenheit zu leben. Du hast noch nicht den Punkt erreicht, an dem dir klar ist, dass das Chaos unaufhaltsam ist. Denn dann stehst du vor der Wahl. Kannst du es dir leisten, es zu ignorieren? Oder solltest du das Chaos dazu benutzen, aus allem rauszukommen?«
Er trank einen Schluck von seinem Kaffee und sagte dann: »Das habe ich getan. Ich habe vom Chaos gelernt, so dass ich es mir zunutze machen konnte. Und gleich wirst du mit mir zusammen genau dasselbe tun.«
78
Er lag neben ihr auf dem Graswall, hinter ihnen das Fußballstadion, vor ihnen die Straße, jenseits davon der Bootsclub. Er hielt ein kleines Fernglas an die Augen, das er aus dem Rucksack geholt hatte. Lange und eingehend beobachtete er den Oceana Power Boat Club. Dann sagte er: »Sie sind noch nicht hier«, und erklärte ihr genau, wie es ablaufen würde. Er erzählte |434| ihr, wie die Zeit scheinbar stillstehen würde, wie sie raste, wenn der Adrenalinstoß käme. Eine Minute könne sich anfühlen wie eine Ewigkeit, aber sie solle sich davon nicht irritieren lassen. Sie müsse auf die Uhr schauen, sobald sie die erste Salve hörte. Sie hatten mindestens zehn, wahrscheinlich aber gut zwanzig Minuten, bis die Polizei eintraf. »Behalte die Zeit im Auge, handle nicht überstürzt, bleibe ruhig.« Wenn sie sähe, dass er das Geld hatte und zum Tor hinausging, solle sie ihm nicht folgen, sondern hinter dem Graswall in Richtung der Lichter laufen. Zum Hotel.
Sie nickte mit ernster Miene.
Er prophezeite, dass die zwei Stunden Wartezeit der schwierigste Teil werden würden. Es sei mühsam, still liegen zu bleiben. Sie solle es sich gemütlich machen, sich eine Kuhle bauen. Ihr größter Feind sei ihr eigener Kopf. »Du wirst müde werden, dir werden Zweifel kommen, du wirst Gespenster sehen, dir wird alles Mögliche einfallen, was schiefgehen kann. Halte dich einfach an den Plan, vergiss alles andere, bleibe wach und halte dich einfach an den Plan.«
Er ließ sie noch einmal den Drill mit der AK47 üben. Kurz bevor er aufstand und geschickt den Abhang hinunterlief, legte er ihr den Arm um die Schultern, küsste sie auf den Hals und auf die Schläfe. »Bis gleich.«
Um Viertel vor eins in der Nacht beobachtete Masilo Bruno Burzynski in der Einsatzzentrale. Der CIA-Mann lief ruhelos auf der anderen Seite des Raumes hin und her, das Handy am Ohr. In unregelmäßigen Abständen sagte er »a-ha«, ohne eine Miene zu verziehen.
Er unterbrach die Verbindung, wandte sich sofort zum Tisch und setzte sich. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und öffnete die Hände in einer Geste der Annäherung. »Sie müssen mit ihr reden, Tau.«
»Sie wird sich nicht umstimmen lassen, Bruno. Nicht, solange Sie ihr nicht sagen, worin die Fracht besteht.«
|435| Zum ersten Mal sah man Burzynski die Anspannung an. Mit einer Geste der Frustration und Hilflosigkeit erwiderte er: »Ich kann nicht, es liegt nicht in meinem Ermessen, und diese ganze Sache ist so verdammt politisch, so verdammt
aufgeladen
…«
»Damit können wir nichts anfangen.«
Burzynski gewann die Beherrschung wieder und saß reglos da. Sichtlich erschöpft lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. »Ich weiß.«
Auszug aus:
Eine Chaostheorie, Human & Rousseau, 2010
Die letzte halbe Stunde, bevor sie kamen, war die schwierigste.
Mir tat jede Faser des Körpers weh, weil ich zu lange auf den unsichtbaren, unauffindbaren Unebenheiten der Grasbollen und Steine gelegen hatte, ich wurde von nagender Unsicherheit zerfressen, und in meinem Kopf öffneten sich durch Markus’ halbes Geständnis die Schleusen, so dass ich an meine eigenen Verfehlungen dachte, vor so langer Zeit.
Auf einem Graswall jenseits eines Hafens für kleine Boote, mitten in der Nacht, erinnerte ich mich an Cassie.
Casper. Vor achtzehn Jahren. Zehn Monate, bevor ich Frans traf. Ein Jahr, bevor ich schwanger wurde. Casper, der
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