Rote Spur
Musikstudent, der Cellospieler, der zusammen mit mir eine Wahlveranstaltung besuchte. Cassie, der Wehrlose, Cassie, der Unansehnliche, Cassie mit den schiefen Zähnen, den kleinen, abstehenden Ohren und der Anhänglichkeit eines misshandelten Hundes. Cassie, die Nervensäge, mit seinen nervösen, zusammenhanglosen Gesprächen und seinem abrupten Schweigen. Und doch hatte ich nicht den Mut, ihn wegzuscheuchen. Es verlieh mir ein gutes Gefühl, es hatte etwas Aufopferndes, Edles und Altruistisches, Cassies Gespräche zu ertragen und den Anschein einer Freundschaft zu erwecken.
Cassie wollte aber immer mehr, rief mich an, lief mir hinterher, fragte am Eingang des Studentinnenwohnheims nach mir, bis es mir zu viel wurde, bis er das Fass zum Überlaufen brachte und ich meinerseits die Sache auf die Spitze trieb. Ich rannte die Treppen hinunter, nahm ihn an der Hand, ging mit ihm in seine kleine
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Wohnung, schloss die Tür hinter uns, stellte mich vor ihn hin und zog mich aus. Ich präsentierte mich ihm nackt und bloß. Ich sah Cassie an, seine Augen, die zwischen meinem Busen und meiner Scham hin und her huschten, seinen leicht geöffneten Mund, seinen Unglauben, seine Dankbarkeit, seine plötzliche Erregung, seine Verwandlung vom Schoßhund zum Wachhund. Wie meine Mutter hatte ich einem Impuls, einem Drang, einem Befreiungsbedürfnis nachgegeben und empfand, genau wie sie, Vergnügen dabei. Es war ein Augenblick des Lichts und der Dunkelheit. Und der Wahrheit.
Ich erlaubte ihm nicht, mich zu berühren.
Sie sah zuerst den Bakkie, dunkelblau, schon älter. Zweimal fuhr er am Tor vorbei, dann kehrte er wieder um in Richtung Waterfront. Kurz darauf kam er zurück. In der Kabine saßen zwei Leute.
Viertel vor eins.
Um fünf vor waren sie wieder da. Sie hielten am Zaun, stiegen aus und suchten die Umgebung gründlich ab. Männer. Einer mit einem Handy am Ohr.
Milla verfolgte jede ihrer Bewegungen.
Um eins kam das zweite Fahrzeug, ein Lieferwagen, der vor dem Tor anhielt. Die Beifahrertür ging auf, ein Mann stieg aus, ging zum Tor, verschwand hinter dem Fahrzeug. Er tauchte wieder auf und stieß die Torflügel auf. Dann blieb er stehen, während der Lieferwagen hindurchfuhr, wartete, bis der dunkelblaue Bakkie erschien und ebenfalls durch das Tor rollte. Dann stieß er es wieder zu, jedoch ohne abzuschließen.
Die Ladeklappe des Lieferwagens wurde geöffnet. Sechs, sieben, acht Männer stiegen aus, jeder mit einer Waffe in der Hand, sie erkannte sie an den Umrissen. AK47-Gewehre, genau wie das, was vor ihr lag.
Ein kräftiger Mann stand inmitten des Geschehens, gestikulierte, erteilte Befehle, und die anderen gingen zum Bakkie und holten Ausrüstungsgegenstände heraus, die wie große, wuchtige Zylinder aussahen.
|437| Sie bewegten sich zielstrebig, als wüssten sie, was sie taten. Zwei gingen links um den Bakkie herum auf den Wellenbrecher zu, zwei gingen nach rechts. Die anderen verschwanden hinter dem Gebäude.
O Gott, Lukas, sie werden dich sehen!
Die Fahrzeuge schalteten die Scheinwerfer aus.
Stille. Nichts geschah.
Siebzehn Minuten nach eins.
Mentz betrat die Einsatzzentrale. Die beiden Männer sahen die Selbstzufriedenheit in ihrem Gesicht. »Ich bin sicher, dass Sie inzwischen Bescheid wissen, Bruno. Die schlechte Nachricht ist, dass Osmans Laptop schwer beschädigt wurde. Die gute Nachricht ist, dass die Festplatte relativ unversehrt geblieben ist. Wir müssten in der nächsten halben Stunde Zugang zu den Daten erhalten. Also lautet die Frage: Wie weit sind Sie gekommen, mit Ihren Satelliten und all dem Schnickschnack?«
Das Warten, das Warten – endlos. Ihr wurde warm in der Jacke, und sie hätte sie am liebsten ausgezogen, wagte es aber nicht, sich zu bewegen. Ihre Hände lagen feucht um den hölzernen Kolben der AK, sie blickte suchend zum Hafen hinunter, aber nichts regte sich.
Wieder und wieder sah sie auf die Uhr, weil die Minuten einfach nicht vergingen. Tatsächlich begann sie zu zweifeln und war schon dabei, sich in Hirngespinsten zu verlieren, doch sie erinnerte sich an seine Mahnung: Halte dich einfach an den Plan! Ihre Lippen formten die Worte, wieder und wieder, geräuschlos: Halte dich einfach an den Plan, bleibe wach!
Um siebenundzwanzig nach eins war es, als löse sie sich von ihrem Körper und steige auf: Sie sah sich selbst an dem Hang liegen, die vierzigjährige Frau mit den kurzen schwarzen Haaren, die Mutter von Barend Lombard, die Exfrau von Christo, und ihr
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