Roter Engel
wartete er schon ungeduldig seit zehn Minuten, daß die Autopsie vorbei war.
Schließlich schaltete Dvorak seinen Kassettenrekorder aus, und Alpren sagte: »Können wir jetzt darüber reden?«
»Bitte sehr«, sagte Dvorak, ohne vom Seziertisch aufzusehen. Er dachte noch über den Leichnam nach, der da vor ihm lag. Ein junger Mann, dessen Torso jetzt vom Hals bis zum Schambein aufgeschnitten war. Da drinnen sehen wir alle gleich aus, dachte er und blickte in den leeren Hohlraum. Das sind wir, eine Ansammlung gleicher Organe, verpackt in verschiedene schattierte Häute. Er nahm Nadel und Faden und fing an, Bauch- und Brusthöhle zuzunähen, setzte einen tiefen Stich nach dem anderen in das Fleisch. Keine Notwendigkeit, besonders fein zu nähen. Hauptsache, alles wurde soweit wieder in Ordnung gebracht, daß die Leiche aufgebahrt werden konnte. Normalerweise war das sogar Lisas Job.
Alpren machte so eine grausige Näharbeit offenbar nichts aus. Er trat an den Tisch. »Das Testergebnis ist gekommen«, sagte er. »Diese − wie nennen Sie sie noch? Diese schnelle …«
»RHPLC. Die allerneueste Hochleistungschromoto-graphie, ›Rapid high-performance liquid chromotography‹ genannt.«
»Genau. Also, das Hospital hat angerufen. Der Test ist positiv.«
Dvorak erstarrte. Er mußte sich dazu zwingen weiterzunähen und die Haut über dem leeren Korpus zu schließen. Ob Alpren es bemerkt hatte? fragte er sich.
»Was bedeutet das also?«
Dvorak konzentrierte sich voll auf seine Aufgabe. »Das genannte Verfahren stellt die Existenz von 7-Hydroxywarfarin fest.«
»Um was handelt es sich dabei?«
»Um ein Stoffwechselprodukt von Warfarin.«
»Und das ist?«
Dvorak machte einen Knoten und setzte den nächsten Stich. »Ein Mittel, das die normale Blutgerinnung beeinflußt. Es kann zu ausgedehnten Blutergüssen führen. Zu Blutungen.«
»Ins Gehirn? Wie bei Mrs. Harper?«
Dvorak holte tief Luft. »Ja. Es kann auch die blauen Flecken an ihren Beinen erklären.«
»Und deswegen haben Sie den Test vorgeschlagen?«
»Dr. Steinglass informierte mich über die abnormalen Gerinnungswerte. Eine Warfarinvergiftung gehört zur Differentialdiagnose.«
Alpren machte sich eifrig Notizen und fragte: »Und wie gewinnen Sie dieses Mittel, dieses Warfarin?«
»Bestimmte Rattengifte enthalten die Substanz.«
»Und man kann daran verbluten?«
»Es braucht einige Zeit. Aber am Ende stirbt man an inneren Blutungen.«
»Angenehme Vorstellung. Wo sonst noch trifft man auf Warfarin?«
Wieder atmete Dvorak tief durch. Ihm gefiel dieses Gespräch nicht. Er wollte gar nicht an die Folgen denken. »Man kann es als verschreibungspflichtiges Medikament bekommen. Es heißt Cumarin und dient der Blutverdünnung.«
»Nur per Verschreibung?«
»Ja.«
»Sie brauchen also einen Arzt, der es Ihnen verordnet, und bekommen es nur in der Apotheke.«
»Stimmt.«
Er kritzelte schneller. »Da bekomme ich einiges zu tun.«
»Wieso?«
»Ich darf jetzt die Apotheken in der Umgebung abklappern. Welche von ihnen hat Cumarin ausgegeben, und welcher Arzt hat es verschrieben?«
»So ungewöhnlich ist die Verordnung nicht. Sie werden auf eine ganze Reihe Ärzte stoßen, die das tun.«
»Ich habe einen speziellen Namen in meinem Raster. Dr. Harper.«
Dvorak legte den Nadelhalter zur Seite und sah Alpren an. »Warum konzentrieren Sie sich ausschließlich auf sie? Was ist mit der Pflegerin ihrer Mutter?«
»Jane Nolan hat eine lupenreine Vergangenheit. Wir haben bei ihren letzten drei Arbeitgebern nachgefragt. Und denken Sie daran:
Sie
war es, die uns angerufen und das Thema Mißhandlungen aufgebracht hat.«
»Vielleicht, um ihren eigenen Hintern zu retten?«
»Sehen Sie es mal aus Dr. Harpers Blickwinkel. Sie sieht ganz nett aus, hat aber keinen Mann, keine eigene Familie. Vielleicht nicht mal hier und da eine Verabredung. Und da sieht sie sich nun eingesperrt mit einer alten, senilen Mutter, die nicht sterben will. Die Folge: Sie kommt mit ihrem Job nicht mehr zurecht und gerät zunehmend unter Streß.«
»Was am Ende in einen Mordversuch mündet?« Dvorak schüttelte den Kopf.
»Regel Nummer eins: Sieh dich zuerst in der Familie um.«
Dvorak schlang den letzten Knoten und schnitt den Faden ab.
Alpren sah auf die zugenähte Leiche, grunzte entsetzt und sagte: »Mein Gott. Frankenstein persönlich.«
»Das wird alles unter einem Totenhemd verschwinden, was sage ich, in einem ganzen Anzug. Selbst ein Bettler soll in seinem Sarg schließlich einen
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