Roter Engel
zurückgefahren war.
Die gleiche Verzweiflung fühlte er jetzt in sich aufsteigen, während er die Wand anstarrte.
Die Sprechanlage schnarrte. Überrascht stand er auf und nahm den Hörer ab. »Ja?«
»Zwei Anrufe für Sie. Auf Leitung eins Toby Harper. Soll ich sie weiterhin abwimmeln?«
Er brauchte seine ganze Willenskraft, um zu sagen: »Ich bin nicht zu erreichen. Auf unbestimmte Zeit.«
»Der andere Anrufer ist Detective Sheehan, Leitung zwei.«
Dvorak drückte die R-Taste. »Roy?«
»Es geht weiter im Fall mit dem toten Baby. Oder was immer das war«, sagte Sheehan. »Sie erinnern sich an das junge Mädchen, das die Ambulanz gerufen hatte?«
»Molly Picker?«
»Ja. Wir haben sie gefunden.«
17
»Es tut mir leid, aber Dr. Dvorak kann Ihren Anruf nicht entgegennehmen.«
Toby legte auf und sah frustriert auf die Uhr. Den ganzen Tag hatte sie versucht, Dvorak zu erreichen. Bei jedem Anruf war sie abgewiesen worden. Sie wußte, die Polizei wollte ihr etwas anhängen. Aber wenn sie nur mit Dvorak reden könnte, könnte sie ihn, als Freund, vielleicht dazu bringen, ihr zu sagen, was gegen sie vorlag.
Doch er wollte ihre Anrufe nicht annehmen.
Sie ging vom Stationszimmer zurück zu ihrer Mutter, stand draußen am Fenster der Kabine und sah zu, wie Ellens Brust sich hob und senkte. Sie war noch tiefer ins Koma gefallen und konnte nicht mehr spontan atmen. Das letzte CT hatte gezeigt, daß die Blutung sich noch ausgebreitet hatte, und fraglos sah es jetzt nach einer pontinen Blutung aus. Eine Schwester stand am Bett und stellte die I.v.-Infusion ein. Sie spürte, daß sie beobachtet wurde, wandte sich zum Fenster und sah Toby. Zu schnell sah sie wieder weg. Dieses Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen – nicht einmal ein höfliches Kopfnicken hatte sie für sie übrig – sprach schon Bände. Die Kollegen trauten Toby nicht mehr. Niemand traute ihr mehr.
Sie verließ das Krankenhaus und stieg in ihr Auto, ließ aber den Motor nicht an. Sie wußte nicht, wohin. Nach Hause wollte sie keinesfalls – zu leer war es dort, zu still. Es war vier Uhr nachmittags, noch keine Zeit zum Abendessen, selbst wenn sie Appetit gehabt hätte. Ihr Tag-und-Nacht-Rhythmus war durcheinander. Die Umstellung auf einen Tagesablauf war noch nicht gelungen, und sie wußte nie, wann der Hunger oder die Müdigkeit sie überkommen würden. Sie wußte nur, daß in ihrem Kopf alles drunter und drüber ging und nichts in Ordnung war.
Und daß ihr Leben, einstmals so wohlgeordnet, nun total und unrevidierbar umgekrempelt war.
Sie öffnete die Handtasche und zog Jane Nolans Bewerbung und Lebenslauf heraus. Sie hatte die Unterlagen mit sich herumgetragen und vorgehabt, alle vier früheren Arbeitgeber von Jane anzurufen und Genaueres über sie zu erfahren, irgendeinen Hinweis darauf, daß ihre »perfekte« Pflegerin so perfekt doch nicht gewesen war. Mit drei Pflegeheimen hatte sie schon telefoniert, und alle hatten Jane überschwenglich gelobt.
Du hast sie alle über den Tisch gezogen, Jane. Aber ich kenne die Wahrheit.
Der vierte ehemalige Arbeitgeber, mit dem sie bisher noch nicht gesprochen hatte, war das Wayside Nursing Home. Es lag nicht weit entfernt.
Sie startete den Motor.
»Mit offenen Armen würden wir Jane wieder bei uns aufnehmen«, sagte Doris Macon, die Heimleiterin. »Von all unseren Pflegerinnen war sie bei unseren Patienten eindeutig die beliebteste.«
Es war gerade Abendessenszeit im Wayside Nursing Home, und der Essenswagen war gerade in den Speisesaal geschoben worden. An vier langen Tischen saßen Patienten in verschiedenen Stadien des Alters. Sie sprachen wenig miteinander. Man hörte nur die Stimmen des Bedienungspersonals, das ihnen die Teller servierte:
Da ist Ihr Essen, meine Liebe. Soll ich Ihnen helfen mit Ihrer Serviette? Warten Sie, ich schneide Ihnen Ihr Fleisch klein …
Doris ließ den Blick über die Versammlung grauer Köpfe wandern und sagte: »Sie werden bei bestimmten Schwestern so anhänglich, wissen Sie. Eine vertraute Stimme, ein freundliches Gesicht, das ist das Schönste für sie. Wenn uns eine Schwester verläßt, fangen manche unserer Patienten ernstlich an zu trauern. Sie haben alle keine Familien mehr, und so werden wir für sie die Familie.«
»Und Jane war gut zu ihnen?«
»Absolut. Wenn Sie erwägen, sie anzustellen, dann seien Sie froh, so eine wunderbare Bewerberin zu haben. Wir waren so traurig, als sie wegging und diesen Job bei der Orcutt Health annahm.«
»Orcutt? In ihren
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