Roter Engel
gepflegten Eindruck machen.«
Dvorak zog seine Arbeitskleidung aus, warf die Hand-schuhe weg und wusch sich die Hände im Waschbecken. »Und was, wenn die Vergiftung ein Unfall war?« sagte er. »Die Mutter hat Alzheimer. Wer kann schon sagen, was sie sich alles in den Mund gesteckt hat? Vielleicht gibt es Rattengift in dem Haus.«
»Das die Tochter bequemerweise so zurechtlegte, daß ihre alte Mutter es fand. Ganz recht.«
Dvorak wusch weiter seine Hände.
»Ich finde es nicht uninteressant, daß Dr. Harper inzwischen mit mir nicht mehr ohne ihren Anwalt reden will«, sagte Alpren.
»Das macht sie nicht verdächtig. Das ist nur klug.«
»Trotzdem stellt man sich Fragen.«
Dvorak trocknete die Hände ab. Er sah Alpren nicht an, wagte es einfach nicht.
Ich sollte diese Ermittlungen nicht noch kommentieren,
dachte er.
Ich bin nicht neutral genug dazu. Ich habe nicht das Herz, an einem Verfahren gegen Toby Harper zu basteln.
Doch was er tun
sollte,
war klar: das, was sein Job verlangte. Die Beweise überprüfen. Die logischen Folgerungen daraus ziehen.
Die Beweislage gefiel ihm nicht.
Die alte Dame war eindeutig vergiftet worden, aber ob vorsätzlich oder zufällig, ließ sich im Moment nicht sagen. Daß Toby dafür verantwortlich war, konnte er nicht glauben. Oder wies er diese Vorstellung nur einfach von sich? War seine Objektivität dahin, einfach weil er sie so anziehend fand? Die ganze letzte Nacht hatte er gegen den heftigen Wunsch angekämpft, sie noch einmal anzurufen. Zweimal hatte er den Hörer sogar schon in der Hand gehabt, dann aber wieder aufgelegt und sich ermahnt, daß man nicht mit einem möglichen Verdächtigen die belastenden Indizien diskutierte. Heute morgen hatte dann
sie
versucht,
ihn
zu sprechen. Er hatte eine Sekretärin als Bollwerk vorgeschoben und sie gebeten, ihn vor Tobys Anrufen abzuschirmen. Es machte ihn regelrecht krank, doch er hatte praktisch keine andere Wahl. Ohne Freunde und so verwundbar, wie Toby im Moment war, konnte er ihr keinen Trost bieten.
Nachdem Alpren gegangen war, zog Dvorak sich nach nebenan ins Labor zurück. Auf dem Counter lagen stapelweise Gewebeproben auf ihren Objektträgern und warteten darauf, analysiert zu werden. Es war eine ruhige, einsame Arbeit, und er war dankbar dafür, allein sein zu können. Für eine Stunde hockte er über das Mikroskop gebeugt, hatte die Welt um sich herum ausgeschlossen, und ab und zu unterbrach nur das gläserne Klingen eines Objektträgers gegen den anderen die Stille. Der Eremit in seiner Klause, abgeschottet vom Rest der Welt. Normalerweise liebte er dieses Arbeiten in der Einsamkeit, aber heute fühlte er sich erbärmlich und konnte sich nicht konzentrieren.
Er betrachtete seinen Finger, wo der Skalpellschnitt abgeheilt war und nur eine winzige Narbe hinterlassen hatte. Sie erinnerte ihn an seine eigene Sterblichkeit und diese sichtlich trivialen Ereignisse, die zu ganzen Katastrophen führen können. Zu früh vom Bordstein auf die Straße treten. Glücklich einen früheren Flug erwischen und dann abstürzen. Eine letzte Zigarette vor dem Einschlafen rauchen. Der Sensenmann lauerte überall und wartete auf seine Chance. Dvorak sah die Narbe und stellte sich vor, wie seine Neuronen gerade jetzt implodierten, zur Selbstzerstörung getrieben von einer Horde fremder Prione.
Nichts konnte er im Moment tun, nichts, außer warten und auf Symptome achten. Ein, zwei Jahre auf jeden Fall. Dann erst hätte er es hinter sich. Und sein Leben wieder.
Er verschloß die Box mit den Objektträgern und starrte auf die leere Wand gegenüber.
Wann hatte ich denn wirklich ein Leben?
Ob es nicht schon zu spät war, noch eines zu beginnen? Er war fünfundvierzig, seine Exfrau war glücklich wieder verheiratet, und sein einziger Sohn hatte bereits den ersten Sprung in die Selbständigkeit getan. Seinen letzten Urlaub vor sechs Monaten hatte er allein verbracht, eine Irlandtour von Pub zu Pub, und hatte die zufälligen menschlichen Kontakte genossen, so kurz und oberflächlich sie auch gewesen sein mochten. Er hatte sich nicht für einen Menschen gehalten, der Gesellschaft wirklich brauchte, bis er eines Abends in einem kleinen Dorf gelandet war und den einzigen Pub geschlossen vorgefunden hatte. Da hatte er plötzlich auf einer einsamen Straße an einem Ort gestanden, wo niemand seinen Namen kannte, und eine so tiefe und unverhoffte Verzweiflung in sich gespürt, daß er wieder in sein Auto gestiegen und geradewegs bis nach Dublin
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