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Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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sein.
    »Hör mal, könnt ihr am Sonntag zum Abendessen kommen?« fragte Vickie.
    »Ich arbeite den Abend.«
    »Deine Schichtdienste kriege ich nie auf die Reihe. Geht es immer noch nach dem Schema vier Nächte Dienst, drei Nächte frei?«
    »Meistens. Nächste Woche habe ich am Montag und Dienstag frei.«
    »Ach, Gott. Beide Abende passen wieder bei uns nicht. Montag ist Elternabend in der Schule. Dienstag hat Hannah ihren Auftritt am Klavier.«
    Toby schwieg und wartete einfach ab, bis Vickie mit ihrer üblichen Litanei, wie voll ihr Kalender sei und wie schwer es falle, die Zeitpläne von vier Familienmit-gliedern unter einen Hut zu bringen, zu Ende war. Hannah und Gabe seien, wie heutzutage alle Kinder, so beschäftigt und stopften alle raren Stunden ihrer Kindheit mit Musik-unterricht, Turnen, Schwimmen und Computerkursen voll. Es sei ein einziges Hierhin- und Dorthinfahren, und am Ende des Tages wisse Vickie ganz einfach nicht mehr, wo ihr der Kopf stehe.
    »Ist schon gut«, unterbrach Toby sie schließlich. »Und wie wäre es mit einem anderen Tag?«
    »Ich wollte aber
wirklich,
daß ihr zu uns herüberkommt.«
    »Ja, ich weiß. Am zweiten Wochenende im November bin ich frei.«
    »Oh, das schreibe ich mir gleich auf. Zuerst muß ich aber mal klären, ob es auch den anderen paßt. Ich rufe dich nächste Woche wieder an, okay?«
    »Schön. Gute Nacht, Vickie.« Toby legte auf und fuhr sich müde mit der Hand durch die Haare. Wir haben ständig und viel zuviel zu tun. Wir finden nicht einmal die Zeit, unsere Beziehungen zu pflegen. Toby ging durch den Flur zum Zimmer ihrer Mutter und spähte hinein.
    Im schwachen Licht der Nachttischlampe sah sie, daß Ellen schlief. Wie ein Kind lag sie in ihrem Bett, den Mund leicht geöffnet, das Gesicht glatt und sorgenfrei. Es gab Momente wie diesen, da konnte Toby sich Ellen als Kind mit kindlichem Gesicht und kindlichen Ängsten vorstellen. Was war aus diesem Kind geworden? Hatte es sich zurückgezogen, als es von all den abstumpfenden Erfahrungen des Erwachsenseins überrollt wurde? Tauchte sie jetzt einfach wieder auf, am Ende ihres Lebens, während diese Erfahrungen wieder von ihr abfielen? Sie berührte die Stirn ihrer Mutter, strich die grauen Haarsträhnen zur Seite. Ellen bewegte sich, machte die Augen auf und sah Toby ein wenig verwirrt an.
    »Ich bin’s nur, Mom«, sagte Toby. »Schlaf weiter.«
    »Ist der Herd ausgeschaltet?«
    »Ja, Mom. Und die Türen sind verschlossen. Gute Nacht.« Sie gab Ellen einen Kuß und verließ das Zimmer.
    Zu Bett gehen wollte sie noch nicht. Es hätte keinen Sinn, ihren Zeitrhythmus durcheinanderzubringen – in noch einmal vierundzwanzig Stunden begann wieder ihre Nachtschicht. Also goß sie sich ein Glas Brandy ein und ging damit ins Wohnzimmer. Sie schaltete die Stereoanlage ein und schob eine Mendelssohn-CD in den Player. Die Solo-Violine setzte ein, klar und traurig. Es war Ellens Lieblingskonzert und jetzt auch Tobys.
    Auf dem Höhepunkt eines langen Crescendos läutete das Telefon. Sie drehte den Ton leiser und griff nach dem Hörer.
    Es war Dvorak. »Tut mir leid, daß ich so spät anrufe«, sagte er.
    »Das geht schon in Ordnung. Ich bin erst vor ein paar Minuten nach Hause gekommen.« Sie machte es sich auf dem Sofakissen bequem, das Glas Brandy in der Hand. »Ich hörte, Sie haben es schon früher mal versucht.«
    »Ich habe mit Ihrer Haushälterin gesprochen.« Er machte eine Pause. Aus dem Hintergrund hörte sie Opernmusik. Don Giovanni. Da sitzen wir also, dachte sie, zwei ungebundene Menschen, jeder bei sich daheim und mit der Stereoanlage als Gesellschaft. »Sie wollten die Krankengeschichten dieser Brant-Hill-Patienten checken«, sagte er. »Und ich bin neugierig, ob Sie noch etwas erfahren konnten.«
    »Harry Slotkins Unterlagen habe ich mir angesehen. Es hat keine Operationen gegeben, bei denen Creutzfeldt-Jakob hätte übertragen werden können.«
    »Und die Hormonspritzen?«
    »Nichts dergleichen. Ich glaube nicht, daß er an den Versuchen beteiligt war. Zumindest wird es dort nirgends erwähnt …«
    »Was ist mit Parmenter?«
    »Seine Unterlagen sind unauffindbar. Da weiß ich also nichts von operativen Eingriffen. Vielleicht können Sie morgen Dr. Wallenberg fragen.«
    Er sagte nichts dazu. Sie merkte, daß der Don Giovanni nicht weiterlief und Dvorak schweigend dasaß.
    »Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr erzählen«, sagte sie.
    »Diese Warterei auf eine ordentliche Diagnose muß für Sie etwas

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