Roter Engel
vom Fenster abgewandt und sammelte ihre Zeitschriften ein. Auf dem Sofa lag aufgeschlagen eine Ausgabe des
National Enquirer
mit der Artikelüberschrift »Schockierende Anzeichen psychischer Leiden«. Schnell hob Jane das Heft vom Sitz hoch und lächelte Toby verlegen an.
»Meine intellektuelle Anregung für heute abend. Ich weiß, ich sollte mir eine ernsthaftere Lektüre suchen. Aber, ehrlich gesagt …« Sie hielt ihr das Magazin hin. »Ich kann einfach nicht widerstehen, wenn Daniel Day-Lewis auf dem Titelblatt ist.«
»Mir geht es genauso«, gestand Toby. Beide lachten über ihr Eingeständnis, daß manche Fragen wohl alle Frauen reizen.
»Alles bestens.« Jane beugte sich über das Sofa und strich die Kissen glatt. »Um sieben haben wir zu Abend gegessen. Sie hat alles weggeputzt. Dann habe ich ihr ein Schaumbad eingelassen. Aber das hätte ich besser nicht tun sollen«, fügte sie reuig hinzu.
»Wieso? Was ist passiert?«
»Sie fühlte sich so wohl, daß sie gar nicht mehr herauswollte. Ich mußte erst einmal das Wasser aus der Wanne ablassen.«
»Ich glaube, ich habe meiner Mutter noch nie ein Schaumbad gemacht.«
»Ach, es ist wirklich lustig, ihr dabei zuzuschauen. Sie türmt sich den Schaum auf den Kopf, bläst ihn überall hin. Sie hätten sich den Fußboden ansehen müssen. Es war, wie wenn man einem Kind beim Spielen zuschaut. Und in gewisser Weise ist sie das ja auch.«
Toby seufzte. »Und dieses Kind wird noch jeden Tag jünger.«
»Dabei ist sie ein so
nettes
Kind. Ich habe schon mit so vielen Alzheimer-Patienten zu tun gehabt, die überhaupt nicht nett waren. Die einfach je älter desto gemeiner wurden. Daß das mit Ihrer Mutter so gehen wird, glaube ich nicht.«
»Nein, bestimmt nicht.« Toby lächelte. »Das war sie nie.«
Jane suchte die übrigen Zeitschriften zusammen, und das Daniel-Day-Lewis-Heft verschwand in ihrem Rucksack. Auch eine Ausgabe von
Modern Bride
war dabei. Das Magazin für die Träumer, dachte Toby. Nach ihren Bewer-bungsunterlagen war Jane ein Single. Mit ihren fünfund-dreißig Jahren kam Jane ihr wie so viele andere Frauen, die Toby kannte, ungebunden, aber voller Hoffnung auf die Zukunft vor. Frauen, denen der Gedanke an strahlende, dunkelhaarige Leinwand-Idole so lange genügte, bis ein Mann aus Fleisch und Blut in ihr Leben trat.
Wenn denn einer kommen sollte. Sie gingen zur Haustür.
»Sie meinen also, alles hat geklappt?« sagte Toby.
»O ja, Ellen und ich kommen einfach gut miteinander aus.«
Jane öffnete die Tür und blieb stehen. »Fast hätte ich es vergessen. Ihre Schwester hat angerufen. Und jemand von der Rechtsmedizin auch. Er sagte, er meldet sich wieder.«
»Dr. Dvorak? Hat er gesagt, worum es ging?«
»Nein. Ich habe ihm gesagt, Sie kämen später heim.« Sie lächelte und winkte. »Gute Nacht.«
Toby schloß die Tür, schob den Riegel vor und ging ins Schlafzimmer, um ihre Schwester anzurufen.
»Ich dachte, du hättest heute abend frei«, sagte Vickie.
»Das stimmt.«
»Ich war überrascht, als Jane sich meldete.«
»Ich hatte sie gebeten, für ein paar Stunden auf Mom aufzupassen. Weißt du, ich genieße es wirklich, einmal in sechs Monaten eine freie Nacht außer der Reihe zu haben.«
Vickie seufzte. »Jetzt bist du schon wieder sauer. Oder?«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Bist du doch, Toby. Ich
weiß,
daß Mom dich einengt. Ich weiß, daß du das nicht fair findest. Aber was soll ich denn tun? Ich habe meine Kinder, und die machen mich völlig fertig. Ich habe einen Job, und der ganze Haushalt bleibt auch noch an mir hängen. Ich habe das Gefühl, ich kriege kaum Luft.«
»Vickie, ist das jetzt eine Art Wettbewerb zwischen uns beiden? Wer hat am meisten zu leiden?«
»Du hast ja keine Vorstellung, was es bedeutet, Kinder zu haben.«
»Nein, ich glaube, das habe ich nicht.«
Langes Schweigen.
Ich habe keine Vorstellung,
dachte Toby,
weil ich ja nie eine Chance hatte.
Aber daran konnte sie nun nicht Vickie die Schuld geben. Der eigene Ehrgeiz und die Fixierung auf ihre Karriere waren es gewesen. Vier Jahre Medizinstudium, drei Jahre Ausbildung in der Klinik. Für Liebesbeziehungen war da keine Zeit gewesen. Und dann waren Ellens Gedächtnis-leistungen dramatisch zurückgegangen, und Toby hatte Schritt für Schritt die Verantwortung für ihre Mutter über-nommen. Geplant war das nicht gewesen. Freiwillig hatte sie sich nicht darauf eingelassen. Es war einfach so gekommen.
Sie hatte kein Recht, zornig auf ihre Schwester zu
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