Roter Engel
Schlimmes sein.«
»Ich habe schon unterhaltsamere Abende verbracht«, gab er zu. »Und ich habe entdeckt, daß Lebens-versicherungspolicen eine sehr langweilige Lektüre sind.«
»O nein. Damit haben Sie doch nicht Ihren Abend gestaltet, oder?«
»Mit Hilfe einer Flasche Wein.«
Mitfühlend murmelte sie: »Nach einem schlimmen Tag empfehle ich immer Brandy. Gerade habe ich ein Glas in der Hand.«
Sie holte Luft und setzte unbekümmert hinzu: »Wissen Sie was? Ich bin die ganze Nacht lang wach. Das bin ich immer. Kommen Sie doch einfach her und trinken ein Glas mit mir.«
Als er nicht gleich antwortete, schloß sie die Augen und dachte:
Gott, warum habe ich das gesagt? Warum höre ich mich so an, als suchte ich verzweifelt Gesellschaft?
»Danke, aber heute abend wäre ich kein amüsanter Gesprächspartner«, sagte er. »Ein andermal vielleicht.«
»Ja, ein andermal. Gute Nacht.« Sie legte auf und dachte:
Was habe ich denn erwartet?
Daß er gleich hergefahren kommt und sie die Nacht damit verbringen, einander in die Augen zu schauen?
Sie seufzte und fing noch einmal das Mendelssohn-konzert an.
Während die Violine spielte, nippte sie an ihrem Brandy und zählte die Stunden bis zur Morgendämmerung.
12
James Bigelow war diese Beerdigungen leid. In den letzten Jahren hatte er an so vielen teilnehmen müssen, und neuerdings wurden es immer mehr, wie ein immer schneller werdender Trommelschlag, der den Gang der Zeit begleitete. Daß so viele seiner Freunde sterben würden, war andererseits wieder zu erwarten gewesen: Mit seinen sechsundsiebzig Jahren hatte er die meisten bereits überlebt. Und nun hatte es der Tod auch auf ihn abgesehen. Er konnte spüren, wie er ihm folgte, und konnte sich sehr genau ausmalen, wie sein Körper steif in dem offenen Sarg liegen würde, das Gesicht gepudert, die Haare gekämmt, eingehüllt in seinem grauen, ordentlich gebügelten und zugeknöpften Anzug. Und darum herum genau die gleiche Trauergemeinde, die still an seinem Sarg vorbeizog und ihm die letzte Ehre erwies. Tatsächlich war das im Sarg dort der alte Angus Parmenter und nicht er, Bigelow. Aber das war nur noch eine Frage der Zeit. In einem Monat oder übers Jahr würde er in diesem Bestattungsinstitut in seinem eigenen Sarg liegen. Der Tag kommt für uns alle.
Die Reihe bewegte sich weiter und mit ihr Bigelow. Vor dem Sarg hielt er an und warf einen Blick auf seinen Freund.
Nicht einmal du warst unsterblich, Angus.
Er ging weiter und durch den Mittelgang zurück, nahm in der vierten Reihe Platz. Von dort aus sah er dieser Prozession bekannter Gesichter aus Brant Hill zu. Da war Angus’ Nachbarin, Anna Valentine, die ihn unentwegt mit ihren Anrufen und ihren Kochkünsten verfolgt hatte. Da waren die Golfpartner vom Club, die Mitglieder des Weinfreundezirkels und die Musiker von der Brant-Hill-Amateurband.
Und wo war Phil Dorr?
Bigelows Blick wanderte durch den Raum und suchte Phil. Er wußte, eigentlich mußte er hiersein. Erst vor drei Tagen hatten sie im Club ein paar gemeinsame Drinks genommen und sich leise über ihre alten Pokerfreunde Angus, Harry und Stan Mackie unterhalten. Alle drei waren jetzt tot, nur Phil und Bigelow waren noch übrig. Ein Pokerspiel nur zu zweit schien den Aufwand nicht wert, hatte Phil gesagt. Er hatte vorgehabt, Angus einen Satz Spielkarten mit in seinem Sarg zu geben, eine Art Mitbringsel für die große himmlische Pokerpartie. Ob die Familie wohl etwas dagegen hätte? hatte er sich gefragt. Ob sie es nicht unpassend finden würde bei all dem feierlichen Glanz von Samt und Seide, in die er gebettet war? Dazu hatten sie traurig gelacht und noch eine Runde Tonic Water bestellt. Ja, zum Teufel, hatte Phil gesagt, er werde es auf alle Fälle tun. Angus würde es jedenfalls gefallen.
Doch jetzt war Phil gar nicht aufgetaucht mit seinem Kartenspiel.
Anna Valentine rutschte in seine Reihe und setzte sich direkt neben ihn. Ihr Gesicht war dick gepudert. Grotesker-weise betonte sie damit nur noch jedes kleine Fältchen, die doch ihr Alter eigentlich nicht verraten sollten. Wieder so eine hungrige Witwe. Er war regelrecht umzingelt von ihnen. Normalerweise hätte er vermieden, mit ihr ein Gespräch anzufangen, weil er fürchtete, sie könnte bei ihrer schlichten Denkweise falsche Schlüsse ziehen. Als ob er etwas von ihr wollte! Doch im Moment war sonst niemand in der Nähe, mit dem er hätte reden können.
Er beugte sich zu ihr und murmelte: »Wo ist denn Phil?«
Sie sah ihn an, als
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