Roter Engel
Protokollen seiner Klinikbesuche über und zu den Anmerkungen der behandelnden Ärzte. Meistens waren es Routineuntersuchungen, abgezeichnet von Dr. Wallenberg, hin und wieder von einem hinzugezogenen Facharzt, Dr. Bartell, einem Urologen. Toby blätterte weiter zurück und blieb an einer zwei Jahre alten Eintragung hängen. Der Name des Arztes war kaum zu entziffern.
»Wer hat das hier geschrieben?« fragte sie. »Die Unterschrift beginnt mit einem Y oder so.«
Brace blinzelte. Die Handschrift war tatsächlich unleserlich.
»Ich komme nicht drauf.«
»Der Name kommt Ihnen nicht bekannt vor?«
Er schüttelte den Kopf. »Manchmal werden Spezialisten von außerhalb hinzugezogen. Worum geht es denn da?«
»Ich glaube, es heißt ›verkrümmte Nasenscheidewand‹. Muß ein HNO-Arzt gewesen sein.«
»Es gibt hier in Newton einen HNO-Facharzt namens Greeley. Die Unterschrift dürfte also wohl mit einem G beginnen statt einem Y.«
Sie kannte den Namen. Greeley wurde auch hin und wieder ins Springer gerufen.
Als nächstes waren die Laborberichte an der Reihe. Ein Computerausdruck zeigte Harrys neuestes Blutbild sowie die übrigen Laborwerte. Alle bewegten sich im normalen Rahmen.
»Ziemlich gute Hämoglobinwerte für einen Kerl in seinem Alter«, stellte sie fest. »Um fünfzehn besser als meine eigenen.«
Sie blätterte weiter und runzelte die Stirn bei einem Briefkopf:
Newton Diagnostics.
»Mein Lieber, ihr haltet auch nichts von Kostenbegrenzung, was? Sehen Sie sich all diese Laborwerte an. Radio-Immunoassay des Schilddrüsen-, des Wachstumshormons, des Prolaktins, des Melatonins, des adrenocorticotropen Hormons. So geht das die ganze Liste herunter.« Sie blätterte um. »Und weiter. Die Auswertung wurde vor einem Jahr gemacht und noch einmal vor drei Monaten. Ein Labor in Newton scheffelt damit ganz schön Geld.«
»Die Auswertungen ordnet Dr. Wallenberg bei all seinen Patienten an, die er mit Hormoninjektionen behandelt.«
»Aber die Versuche mit den Hormongaben sind hier sonst nirgends erwähnt.«
Brace blieb einen Augenblick stumm. »Merkwürdig, nicht? All diese Tests anzuordnen, ohne daß Harry überhaupt an der Versuchsreihe teilgenommen hat.«
»Vielleicht stopft Brant Hill den Newton Diagnostics systematisch die Taschen. Die endokrinologischen Untersuchungen bei diesem einen Patienten belaufen sich auf ein paar tausend Dollar Honorar.«
»Hat Dr. Wallenberg sie bestellt?«
»Das geht aus dem Laborbericht nicht hervor.«
»Schauen Sie sich mal die Auftragsblätter an, und vergleichen Sie die Daten.«
Sie schlug den Abschnitt »Ärztliche Aufträge« auf. Die einzelnen Belege waren handgeschriebene Durchschriften, jede datiert und signiert.
»Okay, die erste endokrinologische Untersuchungsreihe hat Wallenberg angeordnet. Die zweite ist von dem Kerl mit der Klaue unterschrieben. Dr. Greeley – wenn er es denn ist.«
»Wieso sollte ein HNO-Spezialist eine endokrinologische Untersuchung anordnen?«
Sie überflog die restlichen Aufträge. »Hier taucht die Unterschrift noch einmal auf: Das war vor fast zwei Jahren. Da hat er eine präoperative Valiumgabe verordnet und ihn per Ambulanz ins ›Howarth Surgical Associates‹ in Wellesley überführen lassen.«
»Präoperativ? Wozu?«
»Ich könnte mir denken, wegen der schiefen Nasen-scheidewand. Das lese ich jedenfalls daraus.« Sie seufzte und schloß die Akte. »Hat nicht viel gebracht, oder?«
»Dann können wir also wieder von hier verschwinden? Greta wird inzwischen schon sauer auf mich sein.«
Reuevoll gab sie ihm die Akte zurück. »Tut mir leid, daß ich Sie am Abend hier herausgeschleppt habe.«
»Schon gut. Ich kann gar nicht glauben, daß ich damit einverstanden war. Aber in Parmenters Akte müssen Sie doch auch noch hineinschauen, oder?«
»Wenn Sie sie doch nur für mich fänden.«
Er steckte Harry Slotkins Akte in die Lade zurück und schob sie mit einem Knall zu. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Harper, ganz oben auf meiner Prioritätenliste steht das nicht.«
Im Wohnzimmer brannte Licht. Als Toby in die Einfahrt bog und neben Jane Nolans Saab anhielt, sah sie das warme Licht durch die Vorhänge scheinen und dahinter die Silhouette einer Frau am Fenster. Die wachsame Gestalt nach draußen in die Dunkelheit spähen zu sehen war ein beruhigender Anblick. Sah sie doch so, daß jemand daheim war und nach dem Rechten schaute.
Toby schloß die Haustür auf und trat ins Wohnzimmer. »Da bin ich wieder.«
Jane Noland hatte sich
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