Roter Engel
Patienten.«
Sie brachte ihm die Unterlagen, und er ging mit ihnen zu einem leeren Schreibtisch und setzte sich. Quer über den Deckel stand mit schwarzem Markerstift geschrieben:
Verstorben.
Er schlug die Akte auf und überflog die erste Seite mit den Angaben zur Person: Name, Geburtstag, Versicherungsnummer. Mit einem Blick hatte er auch die Adresse registriert: 101 Titwillow Lane, Newton, MA.
Das war eine Brant-Hill-Adresse.
Er blätterte zur nächsten Seite. Nur ein Krankenhaus-aufenthalt war verzeichnet – und zwar der, der mit Stanley Mackies Tod geendet hatte. Mit zunehmender Bestürzung las er die Eintragungen des aufnehmenden Arztes, diktiert am 9. März.
74 Jahre alter, bis dabin gesunder Arzt, weiß, eingeliefert mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma über die Notaufnahme nach Fenstersturz aus dem dritten Stock. Direkt vor dem Unfall hatte Patient in OP-Kleidung Routine-Appendektomie vorgenommen. Nach Aussage der OP-Schwestern zeigte Dr. Mackie auffälligen Tremor an beiden Händen. Ohne Erklärung ging er daran, mehr als hundert Zentimeter normal erscheinenden Dünndarm zu entfernen, was schließlich zu einer massiven Blutung führte. Als der OP-Stab ihn vom OP-Tisch wegzuziehen versuchte, schnitt er dem Anästhesisten die Drosselvene auf und ergriff die Flucht.
Zeugen beobachteten, wie er kopfüber aus dem Flur-fenster sprang. Man fand ihn auf dem Parkplatz. Er war unansprechbar und blutete aus verschiedenen Wunden.
Nach Intubation und Stabilisierung in der Notaufnahme wurde der Patient mit Schädelfrakturen und vermutlicher Fraktur der Wirbelsäule ins Traumazentrum eingeliefert …
Die übrigen Untersuchungsergebnisse waren in den typischen Kürzeln der Medizinersprache zusammengefaßt, eine knappe Liste der Verletzungen und der neurologischen Befunde des Patienten. Rißwunden in Kopfschwarte und Gesicht. Offene Frakturen des Scheitel- und des Brustbeins mit Extrusion von grauer Substanz. Stark erweiterte Pupille rechts. Keine spontane Atmung, keine Reaktion auf Schmerzstimulation. Die Verletzungen des Patienten paßten für Brace zu einem Sturz mit dem Kopf voran auf den Parkplatz.
Er blätterte weiter bis zu den Vermerken des be-handelnden Chirurgen: »Röntgenologische Untersuchung ergibt Kompressionsfrakturen am C6, C7 und T8.« Auch das wies auf einen Aufprall des Kopfes und eine Übertragung auf die Wirbelsäule hin.
Stanley Mackies Hospitalaufenthalt war ein einwöchiger Niedergang seines Organsystems gewesen. Im Koma und künstlich beatmet kam er nie mehr zu Bewußtsein. Zuerst versagten die Nieren, wahrscheinlich eine Schockreaktion auf die Verletzungen. Dann kam eine Pneumonie hinzu. Sein Blutdruck fiel zweimal aus mit der Folge eines Darmverschlusses. Sieben Tage nach seinem Sturz aus einem Fenster im dritten Stock kam es zum Herzstillstand.
Brace blätterte zum Schlußteil der Akte, wo die Laborwerte verzeichnet waren. Computerausdrucke von sieben Tagen reihten die Blut- und Lysewerte, den Zellstoffwechsel, die Urinanalysen auf. Er blätterte und blätterte und überflog die abertausende Dollars teuren Labortests an einem Mann, dessen Tod vom ersten Tag seiner Einlieferung unvermeidlich festgestanden hatte.
An einem Laborbericht zum Stichwort
Pathologie
blieb sein Blick hängen.
Leber (post mortem):
Mikroskopischer Aspekt: Gewicht: 1600 g, blaß, punktförmige Oberflächenblutungen. Kein Anhalt für chronisch-fibrosierende Veränderungen.
Histologie: In der HE-Färbung unregelmäßig verteilte Areale schwach angefärbter Hepatozyten. Dies ist vereinbar mit herdförmigen Koagulationsnekrosen, am ehesten als Ischämiefolge.
Auf der nächsten Seite fand Brace plötzlich ein Blutbild, das weiter in keinem Zusammenhang stand. Er blätterte noch einmal um und hatte die letzte Seite vor sich.
Also ging er die Akte noch einmal nach vorne durch und suchte nach weiteren Post-mortem-Protokollen, stieß aber wieder nur auf die Seite mit der Leber. Das ergab keinen Sinn. Wieso erstellte die Pathologie nur ein Post-mortem-Protokoll zu einem einzigen Organ? Wo waren die für die Lunge, das Herz, das Gehirn?
Er ging zum Counter und fragte, ob es noch weitere Akten zum Fall Stanley Mackie gebe.
»Das ist die einzige«, sagte die Blondine.
»Aber es fehlen Befunde aus der Pathologie.«
»Sie können sich direkt mit der Pathologie kurzschließen. Sie bewahrt von sich aus Kopien von allen Berichten auf.«
Die Pathologie, wie üblich im Untergeschoß angesiedelt, war ein Labyrinth von Räumen
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