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Roter Herbst - Kriminalroman

Roter Herbst - Kriminalroman

Titel: Roter Herbst - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Dann, eines Tages, war die Marlies weg gewesen. Das war kurz vor ihrem Abitur gewesen und es hatte helle Aufregung an der Schule geherrscht. Wie es hieß, war sie nach Berlin gegangen. Wegen eines Mannes.
    Eine ganze Zeit hatte man dann nichts mehr von ihr gehört. Zwei Jahre später war sie mitten in der Nacht zu den Eltern zurückgekehrt und hatte dem Berger und seiner Frau ihr Neugeborenes in die Arme gedrückt. Was damals genau passiert war, wusste Amanda natürlich nicht. Niemand außer Marlies und ihren Eltern wusste das. Aber sicher war jedenfalls, Marlies war nicht lange geblieben, und von jener Nacht an hatten sich die alten Bergers, die Großeltern, um das Baby gekümmert und den Jungen großgezogen.
    Von Anfang an war den Leuten aufgefallen, dass die Gesichtszüge des Kleinen etwas eigenartig waren. Die älteren Erwachsenen hatten sich vielsagend angeblickt, wenn sie Christa Berger, die damals gerade mal 35 war, mit dem Kinderwagen begegneten. Dabei hatten sie immer wieder betont, was für ein liebes Kind der kleine Martin doch sei. Kein Schreikind wie so viele andere. Magnus Berger und seine Frau hatten zu solchen Äußerungen genickt und nichts weiter gesagt.
    Im Lauf der Jahre war es immer deutlicher geworden, dass Martin ein Kind mit Downsyndrom war und sich anders als die Gleichaltrigen im Dorf entwickelte. Zusätzlich litt er immer wieder unter starken epileptischen Anfällen, bei denen sich sein Körper und die Gesichtszüge jedes Mal auf erbarmungswürdige Weise verzerrten. »Mongoloid ist er, der arme Kerl«, hatten die Leute dazu gesagt und dabei an die Marlies gedacht, die es wohl zu bunt getrieben hatte. Ob das Ganze nicht gar ein Zeichen des Himmels gewesen war? Wer wusste das schon. Irgendwann hatten sie sich an den Jungen mit den eng stehenden, mandelförmigen Augen, die nur ganz selten lachten, gewöhnt. Sie vergaßen im Laufe der Zeit seine Behinderung und lernten, sie als etwas Natürliches zu begreifen. Vor allem die Kinder zeigten keine Berührungsängste und nahmen ihn in ihrer Mitte auf, und er wurde Teil ihrer derben Spiele, die sie schon bald in die düstere Welt des Moores führten …
    Aus dem kleinen Martin war in der Zwischenzeit ein fast 40-jähriger, etwas unbeholfen wirkender Mann geworden, dessen Behinderung mittlerweile deutlich zu erkennen war. Vor allem mit dem Sprechen tat er sich schwer und es bedurfte großer Anstrengung, wenn man ihn zu verstehen suchte.
    Seine Mutter, die Marlies, hatte sich in all den Jahren kein einziges Mal im Dorf blicken lassen, und allgemein nahm man an, dass selbst die Eltern nicht wussten, wo ihre Tochter steckte. Es gingen sogar Gerüchte, dass sie entweder in Berlin oder auch in Frankfurt oder in Köln auf dem Strich gelandet war oder vielleicht schon gar nicht mehr lebte.

    »Hallo, Martin«, begrüßte Amanda den jungen Mann. Sie nahm ihn an der Hand, was er widerstrebend und doch gutmütig geschehen ließ, und führte ihn zu einem kleineren Tisch in einer Ecke des Lokals. Die alte Frau mit den verhärmten Gesichtszügen und der Berger blieben hinter dem Tresen stehen. Amanda fühlte, wie sich die Augen der Alten in ihren Rücken bohrten. Sie widerstand jedoch der Versuchung, sich umzudrehen. Dann setzten sie sich und Martins Blick senkte sich sofort auf den Tisch. Sie betrachtete ihn eine Weile. Er hatte dichtes schwarzes Haar. So wie der Berger früher.
    »Erzählst du mir, was du gestern im Moor gemacht hast?«, fragte sie ihn dann behutsam.
    Martin hob die Schultern. »Im Moor«, nickte er.
    Amanda blickte auf seine blassen Hände, die gekreuzt auf dem Tisch lagen. Sie betrachtete seine Finger. Die beiden kleinen waren eigenartig geformt. »Warst du spazieren?«
    »Ja, spazieren. Im Moor.« Wieder nickte er mehrere Male.
    »Gehst du oft dort spazieren?«
    »Im Moor. Ja … Ja. Oft.«
    »Was tust du dort, wenn du spazieren gehst?«
    Verständnislos blickte er sie an. »Spazieren gehen. Im Moor.«
    »Du warst auch bei dem alten Baum, nicht wahr?«
    Sie konnte geradezu spüren, wie er sich bei der Frage verkrampfte, aber er antwortete nicht, blickte weiter angestrengt auf die Tischplatte.
    »Und der Mann?«, fuhr sie fort. »Du hast den Mann im Baum gesehen? Hast du ihn gekannt, diesen Mann?«
    »Nein. Nein. Lieber Mann. Hat Martin gestreichelt … Lieber Mann.«
    Das Wort ›gestreichelt‹ hatte Amanda kaum verstanden.
    »Wie?«, fragte sie erstaunt.
    »Martin gestreichelt.« Wieder nickte er, wie um seinen Worten Nachdruck zu

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