Roter Herbst - Kriminalroman
Schwere Tische aus Eichenholz. Dazu am Boden befestigte Bänke.
Nichts hatte sich verändert. Selbst das alte Fahndungsplakat mit den RAF-Terroristen hing noch neben den Haken für die Garderobe. Jemand hatte rote Kreuze auf die Köpfe der längst Inhaftierten oder Getöteten gekritzelt. Triumphzeichen, verblasst, wie die Porträts selbst. Es schien, als sei die Zeit still gestanden. Und auch wenn Amanda seit damals des Öfteren hier gewesen war, war es gerade das ursprüngliche Bild des düsteren Lokals, das in ihrem Gedächtnis haften geblieben war.
Der Mann, der hinter dem Tresen stand, hatte sich in den letzten Jahren dagegen stark verändert. Er war sichtbar gealtert und hatte seine Haare weitgehend verloren. Nur die Augenbrauen, die er schon früher schwarz und buschig über den blassen Augen zusammengezogen hatte, standen nach wie vor störrisch und drohend in seinem Gesicht.
»Wie geht’s dir, Amanda?«, fragte er, ohne dabei seine Tätigkeit am Zapfhahn zu unterbrechen. Er blickte nur einmal kurz auf und konzentrierte sich wieder auf das halb volle Glas in seiner Hand und den kräftigen Strahl aus dem Hahn.
»Geht so«, gab Amanda zurück. Sie blickte sich im Gastraum um. Die wenigen Gäste dösten vor ihren Biergläsern vor sich hin. Meist waren es ältere Männer. Nur an einem Tisch am Fenster saßen zwei Jungen, die sich lebhaft unterhielten.
»Wo ist denn dein Martin?«, fragte sie. »Ich muss mit ihm sprechen.«
»Oben, in seinem Zimmer. Was willst von ihm?«
»Kannst dir doch denken, Berger.«
Der hatte in der Zwischenzeit ein frisches Glas genommen und begonnen, es zu füllen. Als er damit fertig war, stellte er es zu dem anderen auf ein Tablett. Dann drehte er sich um und rief durch die halb geöffnete Tür hinter dem Tresen: »Christa, hol mal den Jungen. Die Amanda möcht mit ihm reden.«
Er nickte Amanda kurz zu und trug das Tablett zu dem Tisch am Fenster, an dem die zwei jungen Burschen saßen. Der eine kam Amanda bekannt vor. Erst nach einer Weile fiel ihr ein, dass es der junge Mann war, der zusammen mit dem Förster den Toten im Moor geborgen hatte.
»Wer sind die beiden?«, fragte sie den Berger, als er wieder hinter dem Tresen stand.
Der zuckte mit den Schultern und warf einen eigenartigen Blick in die Richtung der Jungen. »Schüler. Aus der Berufsschule in der Stadt. Die kommen öfter.«
»Schon am Vormittag?«
»Warum denn nicht?«
»Weißt du, was mein erster Gedanke war, als ich heute Morgen aufgewacht bin?«, fuhr Amanda fort.
»Nein?«
»Dass dein Martin den Mann gekannt hat, den sie im Moor umgebracht haben.«
»Blödsinn. Das wüsst ich doch.«
Amanda runzelte die Stirn. »Bist dir da sicher?«
»Ja.«
Der Berger schien mit einem Mal richtig verärgert. Er hatte seine Augenbrauen zusammengezogen, wie er das früher getan hatte. Für Amanda sah er plötzlich so aus wie damals. Er versucht, ihn zu beschützen, als wäre er sein Sohn, dachte sie. Aber wovor wollte er ihn denn nur beschützen?
Ehe sie länger darüber nachdenken konnte, wurde die Tür hinter dem Tresen aufgestoßen und eine ältere Frau mit verhärmtem Gesicht schob einen widerstrebenden jungen Mann in die Wirtsstube.
Jeder im Dorf kannte Martin, den Enkel vom Berger. Auch Amanda kannte ihn seit vielen Jahren, genau genommen seit damals, als ihn die Marlies, die Tochter vom Berger, ihren Eltern gebracht hatte. Wie lange das schon her war, schoss es Amanda durch den Kopf. Die Sache mit Marlies Berger … Marlies war etwa fünf oder sechs Jahre älter als sie gewesen und hatte mit ihr das Gymnasium in M. besucht. Eigentlich hatten sie sich kaum gekannt. Damals hatten Welten die beiden Mädchen getrennt. Nicht nur wegen des Alters. Zwar waren sie jeden Morgen gemeinsam mit dem Bus in die Stadt gefahren, aber sie hatten kaum Kontakt gehabt, hatten nur hin und wieder miteinander ein Wort gewechselt. Marlies war in jener Zeit so etwas wie der Star an der Schule gewesen. Ein Überflieger in einer ganz besonderen Weise. Ein wildes, von sich eingenommenes Mädchen, das sich nicht um Gott und die Welt zu scheren schien. Ein bisschen so wie die Uschi Obermeier. Sie dagegen … Amanda seufzte, als sie an die längst vergangenen Zeiten zurückdachte.
Die älteren Lehrer hatten die Marlies nicht gemocht, weil sie so frech gewesen war. Aber die jungen, die Referendare und die Studienräte, hatten ihr schöne Augen gemacht und sämtliche ihrer Kapriolen akzeptiert. Damals hatte es viele Gerüchte gegeben.
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