Roter Zar
kann und wie wenige es gibt, die dieser Aufgabe gewachsen sind und dabei trotzdem ihre Menschlichkeit nicht verleugnen. Die Menschen haben Sie nicht vergessen, Pekkala, und ich glaube, Sie haben sie auch nicht vergessen.«
»Nein«, flüsterte Pekkala. »Ich habe sie nicht vergessen.«
»Was ich Ihnen sagen will, Pekkala: Wenn Sie wollen, ist für Sie hier immer noch ein Platz.«
Bis zu diesem Tag wäre ihm nie in den Sinn gekommen zu bleiben. Aber jetzt hatten sich alle seine Pläne zerschlagen. Ihm wurde bewusst, dass er als letzte Liebesbezeigung die Frau, die er einst hatte heiraten wollen, im Glauben lassen musste, dass er tot war.
»Mehr als nur ein Platz«, fuhr Stalin fort. »Hier erfüllen Sie auch eine sinnvolle Aufgabe. Mir ist klar, wie gefährlich Ihre Arbeit sein kann. Ich kenne die Risiken, und ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Ihre Überlebenschancen heute höher sind als früher. Aber wir brauchen jemanden wie Sie …«
Plötzlich schien Stalin den Faden zu verlieren, als könnte er sich nicht vorstellen, warum Pekkala das alles je wieder auf sich nehmen sollte.
In diesem Augenblick musste Pekkala an seinen Vater denken, an die Würde und Geduld, die er von dem alten Mann gelernt hatte.
»Die Arbeit …« Stalin suchte nach Worten.
»Ist das, was zählt«, sagte Pekkala.
»Ja.« Stalin atmete erleichtert aus. »Sie ist wichtig. Für sie.« Erneut zeigte er zum Fenster, als wollte er mit einer einzigen Handbewegung die Größe des Landes andeuten. Dann schlug er sich mit der Hand gegen die Brust. »Für mich.« Damit hatte er sich wieder gefangen, und alle Unsicherheit fiel von ihm ab. »Es interessiert Sie vielleicht, dass ich mit Major Kirow gesprochen habe. Er hatte zwei Bitten.«
»Was wollte er?«
Stalin gluckste. »Als Erstes wollte er meine Pfeife.«
Pekkala sah zum leeren Pfeifenhalter auf dem Schreibtisch.
»Die Bitte war so sonderbar, dass ich sie ihm tatsächlich erfüllt habe.« Stalin schüttelte den Kopf. »Es war eine gute Pfeife. Aus englischem Bruyèreholz.«
»Und die andere Bitte?«
»Er bat darum, mit Ihnen zusammenarbeiten zu dürfen, falls sich die Gelegenheit wieder ergeben sollte. Ich habe gehört, er ist ein ganz anständiger Koch.«
»Ein Küchenchef«, erwiderte Pekkala.
Stalin ließ die Faust auf den Tisch fallen. »Umso besser! Wir sind hier in einem großen Land mit schrecklichem Essen, es ist immer gut, so jemanden um sich zu haben.«
Pekkalas Miene gab nichts preis.
»Also.« Stalin lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Würde das Smaragdauge einen Assistenten in Betracht ziehen?«
Lange saß Pekkala nur schweigend da und starrte vor sich hin.
»Ich brauche eine Antwort, Pekkala.«
Langsam stand Pekkala auf. »Gut«, sagte er. »Ich kehre sofort an die Arbeit zurück.«
Auch Stalin erhob sich, beugte sich über den Schreibtisch und reichte Pekkala die Hand. »Und was soll ich Major Kirow sagen?«
»Sagen Sie ihm, dass zwei Augen mehr sehen als eines.«
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Anhang
Historische Anmerkungen
Was geschah wirklich mit den Romanows?
Vorbemerkung:
Am 31 . Januar 1918 stellte Russland vom julianischen auf den weltweit gebräuchlichen gregorianischen Kalender um (auf den 31 . Januar folgte der 14 . Februar). Der Genauigkeit zuliebe habe ich die nachstehenden Daten so angegeben, wie sie in Russland gebräuchlich waren, das heißt, bis zum Kalenderwechsel folgen sie dem julianischen, danach dem gregorianischen Kalender.
Februar–März 1917
Die russischen Truppen an der Front gegen Deutschland und Österreich-Ungarn stehen kurz vor dem Zusammenbruch. In den meisten russischen Städten, unter anderem in Moskau und Petrograd, kommt es zu Massendemonstrationen und Streiks.
15 . März 1917
Nikolaus II . dankt zugunsten seines Bruders, Großfürst Michail, ab und verzichtet auch im Namen seines Sohnes Alexej, den er für zu jung und gesundheitlich für zu schwach hält, auf sämtliche Herrschaftsansprüche.
16 . März 1917
Michail weigert sich, die Thronfolge anzutreten. Die Ereignisse sind seiner Meinung nach zu weit fortgeschritten.
März 1917
Nikolaus II . und seine Familie werden in Zarskoje Selo außerhalb von Petrograd unter Hausarrest gestellt. Ursprünglich ist vorgesehen, die Familie ins Exil nach Großbritannien zu schicken. Nach öffentlichen Protesten zieht die britische Regierung das Angebot zurück.
Mai–Juni 1917
Fortgesetzte Proteste und Streiks. Nahrungsmittel- und Brennstoffknappheit
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