Roter Zar
wurden. Eigentlich« – Stalin kratzte sich am Kinn – »ist er jetzt Major Kirow.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Pekkala.
»Es steht Ihnen jetzt frei zu gehen«, sagte Stalin. »Es sei denn, Sie haben vielleicht doch vor zu bleiben.«
»Bleiben? Nein, ich will nach Paris. Ich habe dort eine Verabredung, die längst überfällig ist.«
»Ach«, sagte er. »Mit Ilja, nicht wahr?«
»Ja.« Es machte Pekkala nervös, ihren Namen aus Stalins Mund zu hören.
»Mir liegen Informationen über sie vor.« Stalin musterte ihn, als wären sie Gegner beim Kartenspielen. »Sie erlauben, dass ich sie Ihnen mitteile?«
»Informationen?«, fragte Pekkala. »Welche Informationen?« Lass sie bitte nicht krank oder verletzt sein … oder Schlimmeres, dachte er sich. Alles, nur nicht das.
Knarrend zog Stalin eine der Schreibtischschubladen auf und holte eine Fotografie heraus und betrachtete sie.
»Was ist?«, fragte Pekkala. »Geht es ihr gut?«
»O ja«, erwiderte Stalin. Er legte die Fotografie auf den Tisch und schob sie Pekkala hin.
Es war Ilja. Er erkannte sie sofort. Sie saß an einem kleinen Cafétisch. Hinter ihr auf der Markise las Pekkala die Wörter »Les Deux Magots«. Sie lächelte. Ihre weißen Zähne leuchteten. Widerstrebend ging Pekkalas Blick daraufhin zu dem Mann, der neben ihr saß. Er war schlank, hatte dunkle, nach hinten gekämmte Haare und trug Anzug und Krawatte. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er eine Zigarette, auf die »russische Art«, mit der Glut über der Handfläche, als wollte er damit die herunterfallende Asche auffangen. Beide sahen zu jemandem links von der Kamera. Neben dem Tisch stand ein Gegenstand, den er im ersten Moment gar nicht erkannte, weil es so lange her war, dass er so etwas gesehen hatte. Es war ein Kinderwagen. Das Verdeck war nach oben gezogen, um das Kind vor der Sonne zu schützen.
Pekkala musste sich dazu zwingen, weiter ein- und auszuatmen.
Stalin räusperte sich leise, als wollte er ihn daran erinnern, dass er nicht allein hier war.
»Woher haben Sie das?«, fragte Pekkala heiser.
»Wir kennen den Aufenthaltsort jedes russischen Emigranten in Paris.«
»Ist sie in Gefahr?«
»Nein«, versicherte ihm Stalin. »Ihr wird auch nichts zustoßen. Ich verspreche es.«
Wieder starrte Pekkala auf den Kinderwagen. Er fragte sich, ob das Kind ihre Augen hatte.
»Sie dürfen ihr keine Schuld geben«, sagte Stalin. »Sie hat gewartet, Pekkala. Sehr lange. Über zehn Jahre. Aber man kann nicht ewig warten, nicht wahr?«
»Nein«, musste Pekkala zugeben.
»Wie Sie sehen«, und Stalin deutete auf das Bild, »ist Ilja jetzt glücklich. Sie hat eine Familie. Sie ist Lehrerin, Russischlehrerin natürlich, an der renommierten École Stanislas. Keiner würde behaupten wollen, dass sie Sie nicht mehr liebt, Pekkala. Aber sie hat beschlossen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Etwas, was wir alle an einem bestimmten Punkt im Leben tun müssen.«
Pekkala versuchte zu schlucken.
Langsam hob er den Kopf, bis er Stalin in die Augen schaute. »Warum zeigen Sie mir das?«, fragte er.
Stalins Lippen zuckten. »Wäre es Ihnen lieber gewesen, dass Sie nach Paris fahren, bereit, ein neues Leben zu beginnen, nur um dann herauszufinden, dass sie unerreichbar ist?«
»Unerreichbar?« In Pekkalas Kopf drehte sich alles. Seine Gedanken rasten.
»Sie können natürlich immer noch abreisen.« Stalin zuckte mit den Schultern. »Ich kann Ihnen ihre Adresse geben, wenn Sie wollen. Ein Blick nur, und mit dem Seelenfrieden, den sie in den letzten Jahren möglicherweise gefunden hat, wäre es vorbei. Aber nehmen wir einfach mal an, Sie könnten sie dazu überreden, ihren Ehemann zu verlassen. Nehmen wir an, sie lässt auch ihr Kind zurück …«
»Hören Sie auf«, sagte Pekkala.
»Ein solcher Mensch sind Sie nicht, Pekkala. Sie sind nicht das Ungeheuer, für das Ihre Feinde Sie früher gehalten haben. Wären Sie es, hätten Sie nie so einen bemerkenswerten Gegner für Menschen wie mich abgegeben. Ungeheuer sind leicht zu besiegen. Es ist nur eine Frage der Zeit und des Blutzolls, denn ihre einzige Waffe ist die Angst. Sie aber, Pekkala, haben die Herzen der Menschen gewonnen und sich den Respekt Ihrer Feinde erworben. Ich glaube nicht, dass Ihnen klar ist, wie selten so etwas ist. Und es gibt sie immer noch, die Menschen, deren Herzen Sie gewonnen haben.« Stalin zeigte zum Fenster und dem blassblauen Herbsthimmel dahinter. »Sie wissen, wie schwierig Ihre Aufgabe sein
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