Roter Zar
Räume wie diese wurden zur Aufbewahrung von Kleidung genutzt, die in der jeweiligen Jahreszeit nicht getragen wurde.
Auch dieser Raum, so sauber und ordentlich er einmal gewesen sein musste, war verwüstet. Große Teile der Tapete waren heruntergerissen, so dass darunter der Verputz, Steine und Erde zum Vorschein kamen, die sich auch über den Boden verteilt hatten. Die Wände waren übersät mit Einschusslöchern. Großflächige Flecken geronnenen Bluts bedeckten den Boden und hatten sich mit Mörtelbrocken vermischt. Blutschlieren schienen in der Luft zu hängen, und Pekkala musste zweimal hinsehen, bis ihm klarwurde, dass das Blut nur an den Wänden klebte.
»Nach allem, was Katamidse erzählt hat«, sagte Pekkala, »wurden die Wachleute oben umgebracht und nach unten geschleift. Wahrscheinlich sollten die Ermittler, die sich unweigerlich die Frage stellten, woher das viele Blut stammte, in die Irre geführt werden.«
»Wenn du es sagst«, antwortete Anton. Er blickte sich nervös um.
Die Einschusslöcher in den Wänden schienen sie wie Augen anzustarren.
Pekkala entdeckte im Staub Geschosshülsen.
Er hob eine auf und drehte sie zwischen den Fingern hin und her. Mit dem Daumen rieb er die Rückseite sauber und sah den kleinen Abdruck des Schlagbolzens. Um den unteren Rand der Patrone zog sich ein russischer Schriftzug sowie das Datum 1918 ; die Munition musste zum Zeitpunkt des Abfeuerns also noch ganz neu gewesen sein. Er sammelte auch die anderen Hülsen ein, die vom gleichen Hersteller stammten und mit dem gleichen Datum versehen waren.
»Ich wollte mit dir reden«, sagte Anton.
Pekkala drehte sich zu seinem Bruder um, der mit der über den Kopf erhobenen Laterne wie eine Statue vor ihm stand. »Worüber?«, fragte er.
Anton sah über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass Kirow außer Hörweite war. »Über das, was du als Märchen abgetan hast«, sagte er.
»Du meinst den Zarenschatz?«
Anton nickte. »Wir wissen beide, dass es ihn wirklich gibt.«
»Oh, es gibt ihn«, stimmte Pekkala zu. »Das habe ich nie bestritten. Das Märchen bezieht sich nur darauf, dass ich wüsste, wo er versteckt ist.«
Anton war bemüht, seine Enttäuschung zu verbergen. »Der Zar hatte keine Geheimnisse vor dir. Du warst vielleicht der Einzige, dem er wirklich vertraut hat. Er muss dir gesagt haben, wo er sein Gold versteckt.«
»Selbst wenn ich wüsste, wo es ist«, sagte Pekkala, »würde ich nicht im Traum daran denken, es mir zu holen – eben genau deshalb, weil der Zar mir vertraut hat.«
Anton packte seinen Bruder am Arm. »Der Zar ist tot! Sein Blut ist am Boden unter deinen Füßen. Jetzt bist du den Lebenden verpflichtet.«
»Wenn Alexej noch am Leben ist, gehört das Gold ihm.«
»Und meinst du nicht, dass nicht auch dir etwas zusteht, nach allem, was deine Treue dich gekostet hat?«
»Das einzige Gold, das ich brauche, ist das, was der Zahnarzt mir in die Zähne macht.«
»Und was ist mit Ilja? Was hat sie verdient?«
Pekkala zuckte zusammen, als er ihren Namen hörte. »Lass sie aus dem Spiel«, sagte er.
»Erzähl mir nicht, dass du sie vergessen hättest«, sagte Anton.
»Natürlich nicht. Ich denke die ganze Zeit an sie.«
»Und du meinst, vielleicht hat sie dich vergessen?«
Pekkala zuckte mit den Schultern, als schmerzten sie ihn, als wären die Schulterblätter plötzlich eine zu große Last für seinen Rücken.
»Du hast auf sie gewartet, oder?«, sagte Anton. »Wer will dann schon behaupten, sie hätte nicht auch auf dich gewartet? Sie hat ebenfalls einen Preis für ihre Treue gezahlt, aber ihre Treue galt nicht dem Zaren. Sondern dir. Und wenn du sie findest, hast du dafür zu sorgen, dass sie nicht auf der Straße betteln muss. Das bist du ihr schuldig.«
In Pekkalas Kopf drehte sich alles. Das Tapetenmuster tanzte vor seinen Augen, und die mattbraunen Flecken auf den Bodendielen schienen erneut wie frisches Blut zu glänzen und zu schimmern.
Es war März
1917
.
Es klopfte an der Tür von Pekkalas Haus in Zarskoje Selo, wo er seit Wochen eingesperrt war.
Als Pekkala die Tür öffnete, stand der Zar vor ihm. Obwohl sie beide hier gefangen waren, hatte ihn der Zar bislang nicht besucht. In einer Zeit wie dieser, in der ihrer beider Leben in der Schwebe hing, war ihm Pekkalas Privatsphäre heiliger gewesen als seine eigene.
Der Zar war in den vergangenen zwei Monaten gealtert. Er hatte dunkle Tränensäcke unter den Augen, aus seinen Wangen war alle Farbe gewichen. Er trug
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