Roter Zar
singen‹. Die Einheimischen meiden ihn. Wer im Bergwerk arbeitete, musste von außerhalb herangeschafft werden. Sie sind alle krank geworden. Die meisten sind gestorben.«
»Was wurde dort abgebaut?«, fragte Pekkala.
»Radium. Das Zeug, das in Uhren und Kompassen Verwendung findet. Es leuchtet in der Nacht. Der Staub ist giftig.«
»Was haben Sie dort gesehen?«, fragte Pekkala.
»Einen der Tscheka-Laster«, erwiderte Katamidse. »Und den Mann, der die Romanows erschossen hat. Er hatte die Leichen neben dem Schacht abgeladen. Dann warf er eine nach der anderen hinein.«
»Und Sie wissen ganz bestimmt, dass er es war?«
Katamidse nickte. »Die Scheinwerfer des Lasters waren an. Als er durch den Lichtstrahl ging, sah ich, dass er es war.«
»Und Sie sind sich auch sicher, dass er alle Leichen hinuntergeworfen hat?«
»Der Laster war schon da, als ich ankam. Ich weiß nicht, wie viele Leichen er hinuntergeworfen hat.«
»Hat er Sie gesehen?«
»Nein. Es war finster. Ich habe mich hinter den alten Gebäuden versteckt, in denen die Bergwerksarbeiter gewohnt haben. Ich wartete, bis er wieder einstieg und davonfuhr. Dann lief ich weiter. Ich blieb eine Weile in meiner Hütte. Aber dann fühlte ich mich dort nicht mehr sicher. Daher machte ich mich wieder auf den Weg. Ich blieb nie lange an einem Ort. Irgendwann las ich in der Zeitung, dass die Romanows auf Befehl von Moskau ermordet worden waren. Ganz offiziell. Aber so hatte es für mich nicht ausgesehen. Nachdem ich das las, wurde mir klar, dass ich etwas wusste, was ich eigentlich nicht wissen durfte. Wem sollte man dann noch trauen? Also versuchte ich weiterhin abzutauchen, bis ich schließlich in Wodowenko landete.«
»Wie sind Sie hierhergekommen, Katamidse?«
»Ich habe in den Straßen von Moskau gelebt, in der Kanalisation. Kanalarbeiter haben mich aufgegriffen. Ich weiß nicht, wie lange ich da unten war. Es war der einzige Ort, wo ich mich einigermaßen sicher fühlte. Wissen Sie, wie das ist, Inspektor? Wenn man sich nie sicher fühlt, ganz egal, wo man ist?«
»Ja«, sagte Pekkala. »Dieses Gefühl kenne ich.«
Am
2
. März
1917
, nach den Unruhen in den Straßen von Petrograd und der offenen Meuterei der Frontsoldaten gegen ihre Offiziere, dankte der Zar als absoluter Herrscher von Russland ab.
Eine Woche später, als man darüber verhandelte, die Romanows nach Großbritannien ins Exil zu schicken, wurden der Zar und seine Familie in Zarskoje Selo unter Hausarrest gestellt.
General Kornilow, der das Kommando über den Petrograder Militärbezirk hatte, setzte die Bediensteten in Zarskoje Selo darüber in Kenntnis, dass man ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit gab, um zu gehen. Wer bleiben wollte, würde unter den gleichen Bedingungen wie die Zarenfamilie unter Arrest gestellt.
Die meisten Bediensteten packten sofort ihre Sachen.
Pekkala blieb.
Der Zar hatte ihm ein kleines Haus am Rand des Anwesens zugewiesen, nicht weit von den Stallungen entfernt. Dort wartete Pekkala mit dem zunehmenden Gefühl der Hilflosigkeit auf die kommenden Ereignisse. Das heillose Durcheinander außerhalb der Palasttore wurde noch durch die Tatsache verschlimmert, dass keiner im kaiserlichen Haushalt zu wissen schien, was jetzt zu tun war.
Pekkalas einzige Anweisung, die man ihm am Tag der Abdankung des Zaren mitgeteilt hatte, lautete, er solle sich für weitere Befehle bereithalten. Besonders schwer fielen Pekkala in diesen ungewissen Zeiten die alltäglichen Aufgaben, die er früher verrichtet hatte, ohne darüber nachzudenken. Tätigkeiten wie Wasser für den Tee aufzusetzen, das Bett zu machen oder die Wäsche zu waschen wurden plötzlich zu ungemein komplexen Dingen, die ihn zu überfordern drohten. Da er sonst nichts zu tun hatte, überließ er sich seinen dunklen Vorahnungen und versuchte sich vorzustellen, was außerhalb seiner zusammengeschrumpften Welt vor sich ging.
Pekkala hörte nichts vom Zaren. Stattdessen schnappte er Gerüchte auf, wenn er sich in der Küche seine Tagesration abholte.
Er erfuhr, dass Verhandlungen aufgenommen wurden, die Romanows ins Exil nach Großbritannien zu schicken. Sie sollten, eskortiert von der Royal Navy, vom Nordmeerhafen Murmansk auslaufen. Der Zar hatte zunächst gezögert, die Reise anzutreten, da sich die Kinder noch von den Masern erholten. Die Zarin, die die lange Seereise fürchtete, hatte darum gebeten, nur bis Dänemark zu fahren.
Da tagtäglich bewaffnete Fabrikarbeiter vor die Tore des kaiserlichen Anwesens
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