Roter Zar
zogen, um die Romanows zu verhöhnen, ging Pekkala davon aus, dass die Zarenfamilie heimlich nach draußen geschmuggelt werden musste, wollte sie von hier fort. Und da Pekkala nichts von einem solchen Plan mitgeteilt wurde, kam er zu dem Schluss, dass er zurückgelassen werden würde, ganz allein auf sich gestellt.
Kurz darauf aber kam ihm zu Ohren, dass die Briten ihr Asylangebot zurückgezogen hätten. Bis das Revolutionskomitee entschied, wie mit den Romanows weiter zu verfahren wäre, saßen sie auf dem Anwesen fest.
Der Zar und die Zarin versuchten, zum Wohl ihrer Kinder ihr Leben so normal wie möglich fortzusetzen. Alexejs Hauslehrer, Pierre Gilliard, der sich ebenfalls zum Bleiben entschlossen hatte, gab weiter jeden Tag Französischunterricht. Der Zar selbst unterrichtete Geschichte und Geographie.
In der Küche traf Pekkala immer auf dienstfreie Wachleute, die sich dort nach ihren Patrouillengängen aufwärmten. Sie wussten, wer er war, und Pekkala war aufrichtig überrascht, dass sie sich ihm gegenüber in keiner Weise feindselig gaben. Anders als die noch anwesenden Hauslehrer und Leibdiener gehörte er für sie nicht zu den Romanows. Warum er in Zarskoje Selo geblieben war, war ihnen ein Rätsel. Hinter vorgehaltener Hand ermutigten sie ihn zur Flucht und boten sogar ihre Hilfe an, um an den Absperrungen vorbeizukommen.
Die Wachleute selbst schienen keine eindeutigen Befehle zu haben, wie sie die Romanows zu behandeln hatten. An dem einen Tag konfiszierten sie Alexejs Spielzeuggewehr. Am nächsten gaben sie es ihm zurück. Einmal verboten sie der Zarenfamilie das Schwimmen im Großen See. Dann wurde das Verbot wieder aufgehoben. Da es an eindeutigen Richtlinien mangelte, nahm ihre offene Feindseligkeit gegen die Romanows zu. Einmal rammte ein Wachmann sein Bajonett dem Zar in die Speichen des Fahrrads, auf dem er über das Anwesen fuhr, und der Zar schlug der Länge nach hin.
Als er davon erfuhr, war Pekkala klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis das Leben der Romanows in Gefahr war. Nicht mehr lange, und sie würden auf ihrem Anwesen nicht sicherer sein als draußen vor den Toren. Wenn sie nicht bald von hier wegkamen, würden sie nie mehr wegkommen, und er würde mit ihnen untergehen.
I ch habe eine letzte Frage an Sie«, sagte Pekkala.
Katamidse zog die Brauen hoch.
»Warum reden Sie jetzt? Nach so vielen Jahren?«
»Eine Zeitlang«, sagte Katamidse, »wusste ich, dass ich nur am Leben blieb, wenn mich die Leute für verrückt hielten und kein Wort von dem glaubten, was ich sagte. Das Problem dabei ist nur, Inspektor, wenn man lange genug hier ist, wird man wirklich verrückt. Ich wollte das, was damals geschehen ist, noch loswerden, bevor ich selbst nicht mehr daran glaube.«
»Haben Sie keine Angst, dass der Mann, der den Zaren umgebracht hat, Sie findet?«
»Ich will doch, dass er mich findet«, flüsterte Katamidse. »Ich bin es leid, immer in Angst zu leben.«
Es war spät, als sie Swerdlowsk erreichten.
Der Emka holperte und rumpelte über das Kopfsteinpflaster der Hauptstraße, die sich durch die Stadt zog. Im nassen Glanz der nächtlichen Lichter sah die Straße aus wie die abgestreifte Haut einer riesigen Schlange.
Ordentlich gepflanzte Bäume säumten die Straße und trennten den für Fuhrwerke und Autos reservierten Bereich von dem für Fußgänger ab. Entlang des Bürgersteigs standen große, gepflegte Häuser, ihre Gärten lagen hinter weißen Lattenzäunen, die Fensterläden waren für die Nacht geschlossen.
Anton hatte den Befehl, sofort nach Ankunft dem örtlichen Polizeichef seine Papiere vorzulegen. Da die Dienststelle geschlossen war, wollten sie bis zum Morgen warten.
Nur die Schänke hatte geöffnet, ein niedriges Gebäude, vor deren weiß getünchten Wänden Bänke aufgebaut waren. Auf ihnen saßen alte, vollbärtige Männer, die die großen doppelhenkeligen Kupferbecher untereinander weiterreichten. Einige der Männer rauchten Pfeife, der Rauch kräuselte sich, ihre Gesichter wurden von der Glut beleuchtet. Argwöhnisch sahen sie dem vorbeifahrenden Emka hinterher.
Antons Richtungsanweisungen folgend, steuerte Kirow den Wagen in den Hof hinter einem großen zweigeschossigen Haus. Hohe Steinmauern schirmten es gegen Blicke von außen ab. Das Haus zeigte Anzeichen von Verfall; es war ihm anzusehen, dass niemand mehr hier wohnte. An den Fensterrahmen blätterte die Farbe ab, aus den Abflussrinnen wuchsen Gräser. Auch von der Gartenmauer
Weitere Kostenlose Bücher