Roter Zar
bröckelten Farbe und Verputz, so dass stellenweise die nackten Steine zum Vorschein kamen. Alles schien von feindseliger Leere zu sein.
»Wo sind wir?«, fragte Kirow, als er ausstieg.
»Im Ipatjew-Haus«, erwiderte Anton. »Was wir das Haus für besondere Zwecke nennen.«
Anton zog einen Schlüssel aus der Tasche, mit dem er die Küchentür aufsperrte.
Die drei Männer traten ein. Er tastete nach dem Lichtschalter, betätigte ihn, aber die verstaubten Birnen blieben dunkel. An Nägeln an der Tür hingen mehrere Sturmlaternen, die Kirow schließlich mit dem Petroleum aus einer Kanne auffüllte, die er aus dem Emka geholt hatte. Jeder griff sich eine Laterne, und damit gingen sie durch die Küche, wichen den auf dem Boden liegenden klapprigen Stühlen aus und betraten einen Flur mit schmalen Bodendielen und einer hohen Decke, von der die Überreste eines kristallenen Kronleuchters hingen. Vor ihnen lag die Haustür, links davon führte eine Treppe in den ersten Stock. Rechts lag das vordere Zimmer mit seinem großen offenen Steinkamin.
Pekkala atmete die schale Luft ein. »Warum wohnt hier keiner mehr?«
»Das Haus wurde nach dem Verschwinden der Romanows geschlossen. Nikolai Ipatjew, der Besitzer, ist nach Wien abgereist und nie mehr zurückgekehrt.«
»Schauen Sie bloß«, sagte Kirow und deutete auf die Einschusslöcher in der Tapete. »Was sollen wir hier? Ziehen wir ins Hotel um.«
»Welches Hotel?«, fragte Anton.
Kirow blinzelte unsicher. »Da, wo wir übernachtet haben, als wir die Ermittlungen durchführten.«
»Wir bleiben hier«, sagte Anton.
Kirow riss die Augen auf. »Oh nein. Nicht hier!«
Anton zuckte mit den Schultern.
»Aber hier gibt es nichts!«, sagte Kirow.
»Doch, uns gibt es hier.«
»Ich meine, es gibt keine Möbel!« Kirow deutete in den vorderen Raum. »Sehen Sie doch!«
Durch die hohen Fenster an der einen Seite hatte man früher einen guten Blick auf die Straße. Nun hingen schwere, dunkelgrüne Samtvorhänge davor, die nicht nur zugezogen, sondern fest zusammengenäht waren, damit man sie auf keinen Fall aufziehen konnte.
»Es muss doch ein Hotel in der Stadt geben, eines mit einem anständigen Bett«, flehte Kirow.
»Gibt es«, sagte Anton, »aber das übersteigt unser Budget.«
»Was soll das heißen?«, fragte Kirow. »Können Sie nicht einfach Ihre Befehle vorzeigen, und wir bekommen, was wir wollen?«
»Die Befehle lauten, hier unser Hauptquartier aufzuschlagen.«
»Vielleicht gibt es oben Betten«, schaltete Pekkala sich dazwischen.
»Ja«, sagte Kirow. »Ich sehe mal nach.« Er lief die Treppe hinauf, seine Laterne ließ er hin und her schwingen. Sie warf unruhige Schatten.
»Es gibt keine Betten«, murmelte Anton.
»Was ist mit ihnen passiert?«, fragte Pekkala.
»Gestohlen«, erwiderte Anton, »wie alles andere auch. Der Familie Ipatjew wurde beim Auszug erlaubt, einige Besitztümer mitzunehmen – Bilder und dergleichen. Als die Romanows eintrafen, war nur noch das Nötigste da. Und als wir die Stadt verließen, kamen die braven Swerdlowsker Bürger und nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war, bevor die Weißen einmarschierten. Bis die kamen, war wahrscheinlich nichts mehr hier, was man hätte stehlen können.«
Kirow stapfte im darüberliegenden Stockwerk durch die Räume. Die Dielen knarrten unter seinen Schritten, seine Flüche hallten durchs ganze Haus.
»Wo ist der Keller?«, fragte Pekkala.
»Hier entlang«, sagte Anton. Mit erhobener Laterne führte er Pekkala durch die Küche zu einer blassgelben Tür. Die alte Messingklinke war über und über mit fettigen Fingerabdrücken verschmiert.
Anton öffnete die Tür.
Eine einfache Holztreppe führte nach unten in die Dunkelheit.
»Dort unten«, sagte Anton, »haben wir die Wachen gefunden.«
Sie stiegen in den Keller hinunter. Unten links lag der Kohlenkeller. Durch eine Falltür in der Decke konnten die Kohlen hineingeschaufelt werden. Jetzt lag nur noch Kohlestaub in den Ecken, dazwischen einige kleinere Kohlebrocken. Selbst die Kohle war gestohlen worden. Rechts der Treppe lag ein normalerweise durch eine Doppeltür abgeschlossener Raum. Die Türen aber standen offen und gaben den Blick frei auf einen vier Schritt breiten und zehn Schritt langen Raum mit niedrigem Gewölbe. Weiß-rosarot gestreifte Tapeten hingen an den Wänden. Auf den rosaroten Streifen erkannte Pekkala ein sich wiederholendes Bild, das ihn an die stilisierte Darstellung einer kleinen Schildkröte erinnerte.
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