Rotglut
aus dem Telefonbuch. Ich kann mir aber nicht vorstellen, was Sie überhaupt von mir wollen.«
Noch bevor er antworten konnte, hatte Irene Stolze das Gespräch beendet, und Harry starrte auf seinen Hörer.
Mai 1973, Bremen
Raimund Stegmann betritt das Gebäude der Sicherheitsfirma. Seit der Geschichte im Karstadt sind gut sechs Wochen vergangen. Gefühlte 100 Mal ist er von der Polizei befragt worden.
Nein, er habe keine Ahnung, wer der Typ gewesen sei, der geflüchtet ist. Dieser habe zwar bei ihm ein paar Tage zuvor vorgesprochen und sich um einen Job beworben, aber irgendwie wäre er ihm wie ein windiger Hund vorgekommen und er hätte eine Einstellung abgelehnt. Als er dann im Karstadt-Kaufhaus aufgetaucht sei, habe er, Stegmann, vermutet, sein Chef Ronni habe ihn doch noch kurzfristig aus Personalmangel eingestellt. Nein, er könne sich nicht mehr daran erinnern, wie es zu dem tragischen Unfall gekommen sei. Er habe in Richtung des Flüchtigen geschossen, ohne diesen treffen zu wollen, lediglich ein Warnschuss sei es gewesen. Die Kugel müsse sich verirrt haben, niemals habe er einen Polizisten erschießen wollen.
Wie ein Glaubensbekenntnis hat er immer wieder dieselben Worte als Antwort auf die vielen Fragen der Polizisten wiederholt. Am Ende war er selbst davon überzeugt gewesen.
Ronni hat ihm keine Vorwürfe gemacht. Der Mann in den Turnschuhen muss sich die Kleidung der Sicherheitsleute selbst besorgt haben. Vielleicht sogar nach dem Gespräch, als er sich bei Stegmann für den Job beworben hat. Stegmann zeigte sich Ronni gegenüber zerknirscht, er hätte besser aufpassen müssen, aber wer habe denn so etwas ahnen können.
Natürlich wurde auch wegen der Bombe, die nicht losgegangen war, ermittelt. Das Bundeskriminalamt hatte die Untersuchungen aufgenommen. Drei Ermittler waren aus Wiesbaden angereist, sie hatten ihm Löcher in den Bauch gefragt, aber Stegmann war bei seinen Aussagen geblieben, hatte ihnen nichts hinzuzufügen.
In ein paar Wochen würde ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet werden, wegen fahrlässiger Tötung. Bis zu fünf Jahre Haft könnte dies bedeuten, mit Glück käme er mit einer Geldstrafe davon. Ronni hatte ihm die Adresse eines guten Anwalts genannt, Dr. Bornemann, und Stegmann ist guter Dinge, dass der ihn raushauen wird. Der Job bei Ronni bliebe ihm erhalten. Doch da ist immer noch dieser Zeuge Gerd Weidner, der ihm Sorgen bereitet. Der Mann behauptet glaubwürdig nach wie vor, dass Stegmann auf den Polizisten gezielt hat.
Raimund knöpft sich seinen Blouson auf. Es ist mild an diesem Tag. Er wirft einen Blick in das Zimmer von Silke Weingarten, dem Mädchen für alles in der Firma.
»Moin, Silke. Ist Ronni schon da? Und kannst du mir bitte gleich einen Kaffee bringen?«
»Nix da, Raimund, den Kaffee musst du auf später verschieben. Ein dringender Anruf von einem Herrn … », sie schaut auf einen Notizzettel und kneift die Augen zusammen, »… von einem Herrn Stock. Es geht um die Sicherung seiner Villa. Ronni meint, es sei ein äußerst lukrativer Auftrag zu erwarten, du sollst dich gleich auf den Weg machen. Dieser Stock hat speziell dich verlangt. Er erwartet dich in seinem Büro in der Knochenhauerstraße, Stock-Seiden-Import, zweite Etage. Mach dich mal gleich auf den Weg.« Sie bedeutet ihm mit einer Handbewegung, dass er zügig verschwinden solle.
Stegmann macht auf dem Absatz kehrt. Je intensiver er wieder im normalen Tagesgeschäft arbeitet, desto weniger macht er sich Gedanken um die Zukunft. Wenn er nun doch zu einer Haftstrafe verurteilt wird? Und schuld an dem ganzen Scheißdreck sind die Roten. Was hat er sich abgestrampelt, um in ihre Reihen aufgenommen zu werden. Je mehr er darüber nachdenkt, desto lächerlicher kommt er sich vor. Was hat er sich da nur eingebildet? Ein Weltverbesserer wollte er sein. Sich gegen die Ordnung auflehnen, denen da oben – wen meint er da eigentlich genau? – mal richtig die Meinung sagen. Endlich aufräumen wollte er. Was hat er unlängst noch im Spiegel gelesen: Allein im Jahre 1962 waren noch 952 NS-belastete Richter und Staatsanwälte in der Justiz der Bundesrepublik tätig gewesen. Aber vielleicht soll es nicht sein, vielleicht soll er seine Brötchen weiter bei Ronni verdienen und die Welt sollen andere verbessern.
Wahrscheinlich hat Hannelore recht. Er wird seine Träume begraben, ein guter Familienvater sein und den echten Profis das Feld überlassen. Vielleicht würde er als letztes Zeichen seiner
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