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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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und es hing dort seit seinem ersten Tag als Lehrer.
    »Für den Erwachsenen ist Spiel Erholung, die Wiederherstellung des Lebens; für das Kind dagegen ist Spiel Wachstum, die Erlangung des Lebens.« Daneben war ein Rundschreiben an alle Aufsichtspersonen auf den städtischen Sportplätzen befestigt, das am Vortag gekommen war:
     
    Angesichts der Gefährdung, der die Kinder von Newark auf Grund der kürzlich aufgetretenen Fälle von Polio ausgesetzt sind, bitten wir Sie, die folgenden Anweisungen unbedingt zu beachten: Sollten Putzmittel nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen, bestellen Sie sie sofort. Reinigen Sie Waschbecken, Toilettenschüsseln, Böden und Wände täglich mit einem Desinfektionsmittel und sorgen Sie dafür, dass alles makellos sauber ist. Sämtliche Toiletten der Ihrer Aufsicht unterstellten Anlagen müssen besonders gründlich geputzt werden. Sorgen Sie persönlich und zuverlässig dafür, dass diese Anweisungen eingehalten werden, solange der gegenwärtige Ausbruch der Krankheit unsere Gemeinde gefährdet.
     
    Er ließ sich mit der Patientenauskunft verbinden und fragte nach Herbert Steinmark. Man sagte ihm, der Patient befinde sich nicht mehr im Krankenhaus. »Aber er liegt in einer eisernen Lunge«, widersprach er. »Der Patient ist verstorben«, sagte die Frau am anderen Ende.
    Verstorben. Wie konnte dieses Wort auf den lächelnden, unbeholfenen, dicklichen Herbie zutreffen? Er war von allen Jungen auf dem Sportplatz der ungeschickteste und liebenswerteste. Stets war er unter denen, die morgens halfen, die benötigten Sachen nach draußen zu bringen. An Seitpferd, Barren, Ringen und Kletterseil war er ein hoffnungsloser Fall, doch weil er sich immer ehrlich bemühte und ein so angenehmes Wesen besaß, hatte Mr. Cantor ihm nie eine schlechtere Note als eine 2 gegeben. Der geborene Sportler Alan und der gänzlich unbegabte Sportler Herbie, dem jede körperliche Gewandtheit fehlte - beide hatten an dem Tag, als die Italiener gekommen waren, Baseball gespielt, und beide waren jetzt, im Alter von zwölf Jahren, an Kinderlähmung gestorben.
    Mr. Cantor eilte in den Keller, zum Waschraum der Jungen. Seinem Kummer ausgeliefert und ohne zu wissen, was er dagegen tun sollte, holte er den Mopp, einen Eimer Wasser und einen Kanister Desinfektionsmittel und putzte, heftig schwitzend, den gesamten Boden. Dann ging er zornig, wütend in den Waschraum der Mädchen und putzte ihn ebenfalls. Schließlich nahm er den Bus nach Hause. Seine Hände und Kleider rochen nach Desinfektionsmittel.
     
    Am nächsten Morgen polierte er, nachdem er gefrühstückt und sich rasiert hatte, seine guten Schuhe, zog seinen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte an und fuhr mit dem Bus zur Schley Street. Die Synagoge war ein niedriges, unansehnliches, schachtelförmiges Gebäude aus gelben Ziegeln und stand gegenüber von einem unbebauten Grundstück, das in einen Siegesgarten verwandelt worden war - vermutlich war es eben jener, in dem Alan sich so gewissenhaft um seine Gemüsebeete gekümmert hatte. Mr. Cantor sah ein paar Frauen, die sich mit Strohhüten gegen die Sonne schützten und in schmalen Beeten neben einer Reklametafel Unkraut jäteten. Am Bürgersteig waren einige Wagen geparkt. Direkt vor der Synagoge stand der schwarze Leichenwagen; der Fahrer polierte die vorderen Kotflügel mit einem Tuch. Im Wagen konnte Mr. Cantor den Sarg sehen, eine blasse, schmucklose Holzkiste. Es war unvorstellbar, dass Alan darin lag, nur weil er eine Sommerkrankheit bekommen hatte. In dieser Kiste, aus der es keine Wiederkehr gab. In dieser Kiste, in der ein Zwölfjähriger für immer zwölf Jahre alt blieb. Wir anderen leben und werden jeden Tag älter, aber er bleibt für immer zwölf. Millionen Jahre vergehen, doch er ist noch immer zwölf.
    Mr. Cantor zog die zusammengefaltete Yarmulke aus der Hosentasche, setzte sie auf, ging in die Synagoge und nahm in einer der letzten Reihen Platz. Er verfolgte die Gebete im Gebetbuch und sprach die Rezitationen mit. Mitten im Gottesdienst schrie plötzlich eine Frau: »Sie ist ohnmächtig geworden!« Rabbi Slavin hielt nur kurz inne und fuhr dann fort, während ein Mann - höchstwahrscheinlich ein Arzt - durch den Mittelgang nach hinten und dann die Treppe hinauf zur Galerie eilte, um sich um die Ohnmächtige zu kümmern. In der Synagoge war es mindestens vierunddreißig Grad warm, auf der Galerie womöglich noch wärmer. Kein Wunder, dass jemand ohnmächtig geworden war. Wenn

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