Roth, Philip
dass ein bisschen Wind aufkommt. Man denkt, eine Brise wird etwas Erleichterung bringen. Aber wissen Sie, was ich jetzt glaube, was sie gebracht hat?«, fragte Mr. Michaels. »Ich glaube, diese Brise hat die Polioviren aufgewirbelt wie dürre Blätter. Ich glaube, dass Alan dagesessen und die Viren eingeatmet hat, die mit der Brise gekommen sind ...« Er konnte nicht weitersprechen; er begann zu weinen, stockend und unbeholfen, wie Männer es tun, die sich für stark halten.
Aus dem Schlafzimmer trat eine Frau. Es war die Schwägerin, die sich um Mrs. Michaels kümmerte. Sie trug Schuhe und trat so vorsichtig auf, als wäre nebenan ein unruhiges Kind endlich eingeschlafen.
Leise sagte sie: »Sie will wissen, mit wem du redest.«
»Das ist Mr. Cantor«, sagte Mr. Michaels und wischte sich über die Augen. »Er ist Lehrer an Alans Schule. Wie geht es ihr?«, fragte er seine Schwägerin.
»Nicht gut«, sagte sie. »Unverändert. >Nicht mein Kind, nicht mein Kind.<«
»Ich sehe mal nach ihr«, sagte er.
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte Mr. Cantor, erhob sich und stellte den unberührten Eistee auf ein Beistelltischchen. »Ich wollte Ihnen nur mein Beileid aussprechen. Darf ich fragen, wann die Beerdigung ist?«
»Morgen um zehn. Der Gottesdienst ist in der Synagoge in der Schley Street. Im Hebräischunterricht war Alan der Lieblingsschüler des Rabbis. Er war der Liebling von jedem. Als Rabbi Slavin gehört hat, was passiert ist, ist er persönlich gekommen und hat uns angeboten, den Gottesdienst abzuhalten. Um Alan zu ehren. Können Sie sich das vorstellen? Jeder hat diesen Jungen geliebt. Er war der eine unter einer Million.«
»Welches Fach unterrichten Sie?«, fragte die Schwägerin Mr. Cantor.
»Sport.«
»Alan war verrückt nach allem, was mit Sport zu tun hatte«, sagte sie. »Und er war ein Musterschüler. Alle haben ihn geliebt.«
»Das weiß ich«, sagte Mr. Cantor. »Das sehe ich. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid es mir tut.«
Als er unten durch die Haustür ins Freie treten wollte, kam eine Frau aus der Parterrewohnung, packte ihn erregt am Hemdärmel und sagte: »Wo ist das Quarantäneschild? Andauernd kommen und gehen Leute rein und raus, rein und raus - warum ist hier kein Quarantäneschild? Ich habe kleine Kinder. Warum ist hier kein Quarantäneschild, das meine Kinder schützt? Sind Sie von der Gesundheitspolizei?«
»Ich weiß nichts von einer Gesundheitspolizei. Ich habe die Aufsicht auf dem Sportplatz. Ich bin Lehrer.«
»Wer ist denn dann zuständig?« Ihr Gesicht war verzerrt, sie war eine dunkle, kleine, von Angst niedergedrückte Frau. Sie sah aus, als wäre ihr Leben bereits zerstört worden - durch Polio und nicht durch die bloße Tatsache, dass ihre Kinder in unmittelbarer Nähe eines Polio-Opfers leben mussten. Sie sah nicht besser aus als Mr. Michaels.
»Ich nehme an, das Gesundheitsamt«, sagte Mr. Cantor.
»Wo sind dann die Leute vom Gesundheitsamt?«, rief sie verzweifelt. »Wo ist denn jemand, der zuständig ist? Die Leute draußen gehen nicht mal mehr an unserem Haus vorbei - sie wechseln die Straßenseite.« Wirr und außer sich fügte sie hinzu: »Das Kind ist schon tot, und ich warte immer noch auf das Quarantäneschild!« Sie stieß ein Kreischen aus wie Mr. Cantor es, außer in einem Horrorfilm, noch nie gehört hatte. Es war anders als ein Schrei. Es hätte mit elektrischem Strom erzeugt sein können. Es war ein langanhaltender, schriller Laut, anders als alle anderen menschlichen Laute, die er kannte, und er klang so unheimlich, dass es ihn kalt überlief.
Er hatte noch nicht zu Mittag gegessen und machte sich auf den Weg zu Syd's, um einen Hot Dog zu kaufen. Er ging mit Bedacht auf der schattigen Seite der Straße und glaubte, die Luft über dem gegenüberliegenden Bürgersteig der Chancellor Avenue vor Hitze flirren zu sehen. Die Straße hatte sich geleert. Es war einer jener überwältigenden Sommertage, an denen das Thermometer auf erstaunliche vierzig Grad stieg. Wenn der Sportplatz geöffnet gewesen wäre, hätte er Soft- und Basketballspiele abgebrochen und den Jungen gesagt, sie sollten im Schatten des Schulgebäudes Schach, Dame oder Tischtennis spielen. Viele nahmen Salztabletten, die ihre Mütter ihnen mitgaben, und wollten immer weiterspielen, ganz gleich, wie heiß es war, selbst wenn der Asphalt sich schwammig anfühlte und Wärme verströmte und die Sonne so heiß war, dass man dachte, sie würde die Haut nicht dunkel färben, sondern
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