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Roth, Philip

Titel: Roth, Philip Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nemesis
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für ihn: Ich habe ihn immer Professor genannt.«
    »Ja, das passt«, sagte Mr. Cantor und dachte an Alans Vater in dem halbdunklen Zimmer, an seinen Onkel in der Synagoge und seine Tante hier im Wagen - sie alle priesen ihn aus demselben Grund: weil Alan es verdient hatte. Sie würden für den Rest ihres Lebens um diesen wunderbaren Jungen trauern.
    »Auf dem College«, sagte Mrs. Beckerman, »wollte er Naturwissenschaften belegen. Er wollte Wissenschaftler werden und Krankheiten heilen. Er hat ein Buch über Louis Pasteur gelesen und wusste alles über Pasteur und wie er entdeckt hat, dass Keime unsichtbar sind. Er wollte ein zweiter Louis Pasteur werden«, sagte sie und beschrieb eine Zukunft, die es nie geben würde. »Statt dessen«, sagte sie, »musste er einen Hot Dog essen, in diesem Drecksloch, wo es von Keimen nur so wimmelt.«
    »Edith, es reicht«, sagte Mr. Beckerman. »Wir wissen nicht, wie er sich angesteckt hat. Kinderlähmung gibt es in der ganzen Stadt. Es ist eine Epidemie, sie kann überall zuschlagen. Er hat diese Krankheit gekriegt und ist daran gestorben. Das ist schrecklich, aber mehr wissen wir nicht. Alles andere ist bloß Gerede und bringt niemanden weiter. Wir wissen nicht, wie seine Zukunft ausgesehen hätte.«
    »Doch!«, rief sie aufgebracht. »Dieser Junge hätte alles werden können!«
    »Gut, du hast recht. Ich will mich nicht streiten. Aber jetzt lass uns einfach zum Friedhof fahren und den Jungen anständig beerdigen - das ist alles, was wir für ihn noch tun können.«
    »Und die beiden anderen«, sagte Mrs. Beckerman. »Gott verhüte, dass ihnen etwas passiert.«
    »Sie haben's bis jetzt geschafft«, sagte Mr. Beckerman, »und den Rest werden sie auch noch durchstehen. Bald ist der Krieg vorbei, und dann kommen Lenny und Larry wieder nach Hause.«
    »Aber sie werden ihren kleinen Bruder nie mehr wiedersehen. Alan wird immer noch tot sein«, sagte sie. »Er wird nie zurückkehren.«
    »Edith«, sagte er, »das wissen wir doch. Du redest und redest und sagst nichts, das nicht alle schon wüssten.«
    »Lass sie doch, Dad«, sagte Meryl.
    »Aber wozu soll das gut sein?«, sagte Mr. Beckerman.
    »Es tut gut«, sagte das Mädchen. »Ihr tut es gut.«
    »Danke, mein Schatz«, sagte Mrs. Beckerman.
    Alle Fenster des Wagens waren heruntergekurbelt, und doch fühlte Mr. Cantor sich, als wäre er nicht in einen Anzug, sondern in eine Wolldecke gehüllt. Der Zug hatte den Park erreicht, bog nach rechts in die Elizabeth Avenue ein und fuhr durch Hillside und über den Bahnübergang nach Elizabeth. Mr. Cantor hoffte, dass es nicht mehr lange dauerte, bis sie den Friedhof erreicht hätten. Wenn Alan noch länger im Sarg gebraten würde, dann würde es diesen, so stellte er sich vor, irgendwie zerreißen, als wäre eine Granate darin explodiert, und die sterblichen Überreste des Jungen würden sich überall im Leichenwagen und auf der Straße verteilen.
     
    Warum schlägt Polio nur im Sommer zu? Auf dem Friedhof stand er, barhäuptig bis auf die Yarmulke, in der Mittagshitze und fragte sich, ob diese Krankheit nicht von der Sommerhitze selbst hervorgerufen wurde. In diesem Augenblick schien die Sonne stark genug, um zu lähmen, zu verkrüppeln, zu töten. Jedenfalls schien sie eher imstande zu sein, einen Menschen niederzustrecken, als die mikrokosmischen Keime in einem Hot Dog.
    Ein Grab war ausgehoben worden. Es war erst das zweite offene Grab, das Mr. Cantor zu sehen bekam. Das erste war das seines Großvaters gewesen, vor drei Jahren, kurz vor dem Krieg. Damals war er während der Zeremonie am Grab ganz davon in Anspruch genommen gewesen, seine Großmutter zu stützen und ihren Arm zu halten, damit sie nicht in sich zusammensank. Danach war er so sehr damit beschäftigt, sich um sie zu kümmern und jeden Abend bei ihr zu sein und sie schließlich einmal pro Woche ins Kino und auf ein Eis auszuführen, dass es lange dauerte, bis er Zeit fand, sich seines eigenen Verlustes bewusst zu werden. Doch jetzt, da der Sarg in das Grab hinabgelassen wurde und Mrs. Michaels ihn festhalten wollte und schrie: »Nein! Nicht mein Kind!«, offenbarte sich ihm der Tod als ebenso mächtig wie die unablässig auf seinen mit der Yarmulke bedeckten Kopf einhämmernde Sonne.
    Sie beteten mit dem Rabbi die Totenklage, wobei sie Gott wiederholt für Seine Allmacht priesen. Sie sparten nicht mit Lob für einen Gott, der dem Tod erlaubte, alles - auch Kinder - zu zerstören. Zwischen dem Tod von Alan Michaels und

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