Roth, Philip
der Gottesdienst nicht bald zu Ende war, würden noch mehr Leute ringsum in Ohnmacht fallen. Selbst Mr. Cantor fühlte sich etwas flau in seinem Anzug, einem Wollanzug, der eigentlich für den Winter bestimmt war.
Der Platz neben ihm war leer. Er wünschte, Alan würde kommen und sich darauf setzen. Er wünschte, Alan würde mit seinem Baseballhandschuh kommen und sich neben ihn setzen, wie er es so oft auf der Tribüne getan hatte, um das Sandwich aus seinem Lunchpaket zu essen.
Die Rede hielt Isadore Michaels, Alans Onkel, dessen Apotheke an der Ecke Wainwright und Chancellor Avenue stand und den seine Kunden nur Doc nannten. Er war ein jovialer Mann, untersetzt und mit dunklem Teint wie Alans Vater und denselben Flecken unter den Augen. Er war der einzige, der eine Rede hielt, denn niemand sonst in der Familie hatte seine Gefühle so weit im Griff, dass er dazu imstande gewesen wäre. Man hörte viele weinen, nicht nur auf der Galerie.
»Zwölf Jahre lang hat Gott uns mit Alan Avram Michaels gesegnet«, sagte sein Onkel Isadore und lächelte tapfer. »Er hat mich gesegnet mit einem Neffen, den ich vom Tag seiner Geburt an von Herzen geliebt habe, als wäre er mein eigenes Kind. Jeden Tag kam Alan auf dem Heimweg von der Schule in mein Geschäft, setzte sich an die Theke und bestellte eine kalte Malzschokolade. Als er in die Schule kam, war er dünn wie ein Fädchen, und ich wollte ihn etwas auffüttern; wenn ich gerade keinen Kunden hatte, machte ich die Malzschokolade selbst und tat eine Extraportion Malz hinein, damit er Fleisch auf die Knochen bekam und groß und stark wurde. Es wurde zu einem Ritual und ging Jahr um Jahr so. Und wie ich die Besuche meines wunderbaren Neffen genoss!«
Er musste einen Augenblick innehalten, um sich zu fassen.
»Alan«, fuhr er fort, »kannte sich aus mit tropischen Fischen. Er wusste wie ein Fachmann, was man bei den verschiedenen Arten von Fischen zu beachten hatte. Und es gab nichts Spannenderes, als ihn zu besuchen, mit ihm vor dem Aquarium zu sitzen und ihm zuzuhören, wenn er einem alles über jeden einzelnen Fisch erklärte, wie sie sich vermehrten und so weiter. Man konnte eine Stunde mit ihm da sitzen, und noch immer war sein Wissen nicht erschöpft. Wenn man mit Alan zusammen gewesen war, hatte man gute Laune und ein Lächeln auf dem Gesicht und obendrein noch etwas gelernt. Wie hat er das nur gemacht? Wie konnte dieses Kind für uns Erwachsene so viel tun? Was war Alans Geheimnis? Sein Geheimnis war, dass er jeden Tag lebte, dass er in allem ein Wunder sah und sich über alles freute - ob es jetzt die Malzschokolade nach der Schule war oder ob es seine tropischen Fische waren oder das, was er gerade in der Schule gelernt hatte, oder all die Sportarten, für die er so begabt war, oder die Arbeit in seinem Siegesgarten. Alan hat in seinen zwölf Jahren mehr Freude erfahren als die meisten in einem langen Leben. Und er hat anderen mehr Freude bereitet als die meisten in einem langen Leben. Alans Leben ist zu Ende gegangen ...«
Hier musste er abermals innehalten, und als er fortfuhr, war seine Stimme belegt, und in seinen Augen standen Tränen.
»Alans Leben ist zu Ende gegangen«, wiederholte er, »doch in unserem Kummer sollten wir uns ins Bewusstsein rufen, dass es für ihn zeit seines Lebens endlos war. Jeder Tag war endlos, weil Alan so neugierig war. Jeder Tag war endlos, weil Alan so scharfsinnig war. Er war sein Leben lang ein Kind, ein glückliches Kind, und alles, was er getan hat, hat er mit Leib und Seele getan. Es gibt auf dieser Welt weit schlimmere Schicksale.«
Anschließend wartete Mr. Cantor vor der Synagoge darauf, Alans Familie sein Beileid aussprechen und dem Onkel für seine Rede danken zu können. Wer Doc Michaels in seinem weißen Kittel in der Apotheke stehen sah, wo er die verschriebenen Tabletten abzählte, wäre wohl nicht auf den Gedanken gekommen, er könnte ein großer Redner sein, der mit der Kraft seiner Worte alle möglichen Mitglieder der Gemeinde, sei es auf der Galerie oder unten, zu Tränen rühren konnte.
Mr. Cantor sah vier Jungen aus dem Gebäude kommen, die er vom Sportplatz kannte: Spector, Sobelsohn, Taback und Finkelstein. Sie trugen schlecht sitzende Anzüge, weiße Hemden, Krawatten und harte Schuhe, und Schweiß lief ihnen über das Gesicht. Es war nicht ausgeschlossen, dass das Härteste, was dieser Tag zu bieten hatte, nicht ihre erste unmittelbare Konfrontation mit dem Tod war, sondern vielmehr die Tatsache, dass
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