Roth, Philip
sie in dieser Hitze auch noch von gestärkten Kragen und Krawatten erstickt wurden. Aber sie hatten sich ihre besten Kleider angezogen und waren zur Synagoge gekommen, und Mr. Cantor ging zu ihnen, drückte jedem kurz die Schulter und klopfte ihnen auf den Rücken. »Alan hätte sich gefreut, dass ihr gekommen seid«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Das war sehr anständig.«
Jemand berührte seine Schulter. »Bei wem fahren Sie mit?«
»Was?«
»Da ...« Der Mann zeigte auf einen Wagen, der in einigem Abstand zum Leichenwagen parkte. »Da, fahren Sie mit den Beckermans.« Er schob Mr. Cantor in Richtung einer Plymouth Limousine, die am Straßenrand stand.
Er hatte nicht zum Friedhof mitfahren, sondern nach dem Trauergottesdienst zu seiner Großmutter zurückkehren wollen, um ihr bei den am Wochenende anfallenden Hausarbeiten zu helfen, doch er stieg in den Wagen, dessen Tür sich für ihn öffnete, und setzte sich auf den Rücksitz neben eine Frau mit Hut und Schleier, die sich mit einem Taschentuch Luft ins Gesicht fächelte, dessen Puderschicht von Schweißspuren durchzogen war. Auf dem Fahrersitz saß ein stämmiger, nicht sonderlich großer Mann in einem dunklen Anzug, dessen Nase, wie die von Mr. Cantors Großvater und möglicherweise aus denselben antisemitischen Gründen, gebrochen war. Neben ihm saß ein dunkelhaariges Mädchen von fünfzehn, sechzehn Jahren, das ihm als Alans Cousine Meryl vorgestellt wurde. Die beiden älteren Beckermans waren Alans Onkel und Tante mütterlicherseits. Mr. Cantor sagte, er sei einer von Alans Lehrern.
Sie mussten etwa zehn Minuten in dem heißen Wagen sitzen und warten, bis sich der Beerdigungszug hinter dem Leichenwagen formiert hatte. Mr. Cantor versuchte, sich an alles zu erinnern, was Isadore Michaels in seiner wunderbaren Rede gesagt hatte, besonders an die Stelle, wo es darum gegangen war, dass Alan sein Leben, solange er es gelebt hatte, unendlich erschienen war - doch er landete immer wieder bei der Vorstellung, dass Alan in seinem Sarg gebraten wurde wie ein Stück Fleisch.
Sie fuhren die Schley Street bis zur Chancellor Avenue, wo sie links abbogen, und dann ging es die Chancellor Avenue hinauf, vorbei an der Apotheke von Alans Onkel und der Grundschule und der Highschool auf dem Hügel. Es gab kaum anderen Verkehr; die meisten Geschäfte waren geschlossen, bis auf das von Tabatchnick, der sonntags morgens geräucherten Fisch verkaufte, die Eckläden, in denen es Zeitungen gab, und die Bäckereien, in denen man Brot und Bagels für das Sonntagsfrühstück bekam. In den zwölf Jahren seines Lebens war Alan sicher tausendmal auf dieser Straße unterwegs gewesen: Er war zur Schule und zum Sportplatz gegangen, er hatte für seine Mutter eingekauft und bei Halem's seine Freunde getroffen, er war den ganzen Weg den Hügel hinauf und auf der anderen Seite hinunter zum Weequahic Park gegangen, um zu angeln, Schlittschuh zu laufen oder auf dem See zu rudern. Jetzt fuhr er zum letzten Mal die Chancellor Avenue entlang, an der Spitze eines Trauerzuges und in einem Sarg. Wenn es in diesem Wagen so heiß ist, dachte Mr. Cantor, wie heiß muss es dann erst in dieser Kiste sein?
Alle im Wagen schwiegen, bis sie den Gipfel des Hügels beinahe erreicht hatten und an Syd's Hot Dogs vorbeikamen.
»Warum musste er auch in diesem Drecksloch essen?«, sagte Mrs. Beckerman. »Warum konnte er nicht warten und zu Hause etwas aus dem Eisschrank nehmen? Warum darf diese Kaschemme überhaupt geöffnet haben, so nah bei einer Schule? Noch dazu im Sommer.«
»Edith«, sagte Mr. Beckerman, »beruhige dich.«
»Ma«, sagte Alans Cousine Meryl, »alle Schüler essen da. Es ist ein Treffpunkt.«
»Es ist eine Brutstätte«, sagte Mrs. Beckerman. »Dass ein so verständiger Junge wie Alan mitten in der Polio-Saison dorthin gegangen ist, bei dieser Hitze -«
»Genug, Edith. Es ist heiß. Das wissen wir.«
»Da ist seine Schule«, fuhr sie fort, als sie auf dem Gipfel des Hügel an der hellen Steinfassade der Grundschule vorbeifuhren, in der Mr. Cantor unterrichtete. »Wie viele Kinder lieben die Schule so sehr wie Alan? Von Anfang an hat er die Schule geliebt.«
Mr. Cantor hatte den Eindruck, dass diese Bemerkung an ihn als einen Repräsentanten der Schule gerichtet war, und sagte: »Er war ein ausgezeichneter Schüler.«
»Und da ist die Weequahic Highschool, wo er ebenfalls ein ausgezeichneter Schüler gewesen wäre. Er wollte Latein nehmen. Latein! Ich hatte einen Spitznamen
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