Roth, Philip
dem gemeinsam zum Preis Gottes gesprochenen Kaddisch hatte Alans Familie kaum mehr als vierundzwanzig Stunden Zeit gehabt, Gott für das, was Er getan hatte, zu hassen und zu verabscheuen. Doch vermutlich waren sie gar nicht auf den Gedanken gekommen, sie dürften derlei tun, jedenfalls nicht ohne Gottes Zorn und als Strafe den Tod ihrer anderen beiden Söhne herabzubeschwören.
Was der Familie Michaels vielleicht nicht eingefallen war, fiel Mr. Cantor jedoch sehr wohl ein. Er hatte Gott nicht gehasst, weil Er ihm seinen Großvater genommen hatte, als dieser ein dem Sterben angemessenes Alter erreicht hatte. Aber Alan Michaels durch Polio umzubringen? Polio überhaupt entstehen zu lassen? Wie konnte es angesichts von derart wahnsinniger Grausamkeit Vergebung - geschweige denn Hallelujahs - geben? Es wäre Mr. Cantor viel weniger anstößig erschienen, wenn die Trauernden sich als Zelebranten der Majestät eines Sonnengottes bekannt hätten, als Kinder einer immerwährenden Sonnengottheit, wenn sie sich, inbrünstig wie die uralten Kulturen unserer Hemisphäre, einem rituellen Sonnentanz um das Grab des Jungen hingegeben hätten - lieber das, lieber die ungebrochenen Strahlen des Großen Vaters Sonne verehren und besänftigen als sich demütig einem höchsten Wesen unterwerfen, das nach Belieben die abscheulichsten Verbrechen verübte. Ja, es war weit besser, den unersetzlichen Schöpfer zu preisen, der unser Leben von Anbeginn überhaupt erst möglich gemacht hatte, weit besser, im Gebet die sinnlich erfahrbare tägliche Begegnung mit diesem allgegenwärtigen goldenen Auge am blauen Gewölbe des Himmels zu verehren, das die Erde zu Asche verbrennen konnte, als die offizielle Lüge zu schlucken, Gott sei Liebe und Güte, und vor einem kaltblütigen Kindermörder im Staub zu kriechen. Das war besser für die Würde, für das Gefühl der Menschlichkeit und des eigenen Wertes, ganz zu schweigen von der alltäglichen Einschätzung dessen, was zum Teufel hier eigentlich los war.
J'heisch'meiraba m'vorach, l'allam, u'l'allmeiallmaja.
Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit und Ewigkeit der Ewigkeiten.
Jitbaracb, vejischtabach vejispaar, ve jisromam, ve jisnasei,
Gepriesen sei und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht,
Ve jishadar, vejisaleih, ve jishalal schemeih d'kudschah.
Gefeiert, hocherhoben und gepriesen sei der Name des Heiligen.
B'rich hu... Gelobt sei Er ...
Während des Gebetes am Grab dieses Kindes sagte die Gemeinde viermal: »Omein.«
Erst als der Trauerzug die weite Fläche voller Grabsteine hinter sich ließ und durch das Tor auf die McClellan Street fuhr, erinnerte er sich plötzlich daran, dass er als Junge den jüdischen Friedhof an der Grove Street besucht hatte, wo seine Mutter und jetzt sein Großvater begraben waren und wo auch seine Großmutter und er selbst beerdigt werden würden. Seine Großeltern waren jedes Jahr zum Geburtstag seiner Mutter mit ihm dorthin gegangen, obwohl er sich schon bei seinem ersten Besuch nicht hatte vorstellen können, dass sie tatsächlich dort war. Er stand zwischen seinen weinenden Großeltern, und immer war ihm so, als würde er bei einem Spiel mitmachen, in dem man so tat, als wäre es so - nirgends war das Gefühl, dass er eine Mutter gehabt habe, sei lediglich eine Geschichte, stärker als auf dem Friedhof. Doch obwohl er wusste, dass dieser jährliche Besuch das Absonderlichste war, was man von ihm verlangte, weigerte er sich nie mitzugehen. Wenn es erforderlich war, um einer Mutter, die nirgends in sein Gedächtnis eingewoben war, ein guter Sohn zu sein, dann tat er es, auch wenn er sich dabei fühlte, als würde er bloß eine Rolle spielen.
Wenn er versuchte, am Grab einen angemessenen Gedanken zu fassen, fiel ihm immer die Geschichte von seiner Mutter und dem Fisch ein, die seine Großmutter ihm erzählt hatte. Von all ihren Geschichten - harmlosen Vorbildgeschichten darüber, wie gut Doris in der Schule gewesen war, wie hilfsbereit im Haushalt, wie sie es als Kind geliebt hatte, im Laden an der Kasse zu sitzen, genau wie er - hatte sich diese am tiefsten in sein Gedächtnis eingegraben. Das unvergessene Ereignis hatte an einem Frühlingsnachmittag lange vor seiner Geburt und ihrem Tod stattgefunden: Seine Großmutter ging im Zuge der Vorbereitungen für das Passahfest stets zum Fischgeschäft an der Avon Avenue, um zwei lebende Karpfen aus dem Aquarium auszusuchen. Diese brachte sie dann in einem Eimer nach Hause und setzte sie in die mit
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