Roth, Philip
eine erfahrene Lehrkraft. Ihre mädchenhaft kleine Nase war mit einer weißen Salbe bestrichen, als hätte sie einen Sonnenbrand oder wäre mit Giftsumach in Berührung gekommen. Ja, das war hier oben die Hauptsorge, das war es, wovor man sich in erster Linie zu hüten hatte: Giftsumach!
In diesem Tumult war es unmöglich, Marcias Aufmerksamkeit zu erlangen. Mehrmals reckte er den Arm, doch obgleich er ihn mehrere Sekunden lang erhoben hielt und winkte, sah sie ihn nicht. Dann entdeckte er Marcias Schwestern Sheila und Phyllis, die Steinberg-Zwillinge, die nebeneinander einige Tische von dem Marcias entfernt saßen. Sie waren jetzt elf und sahen verblüffend anders aus als ihre ältere Schwester: sommersprossige Mädchen mit langen, mitleiderregend dünnen Beinen, krausem, rötlichem Haar und Nasen, die nach der ihres Vaters gerieten, und beide waren bereits fast so groß wie Marcia. Er winkte ihnen zu, aber sie unterhielten sich angeregt mit den Kameradinnen an ihrem Tisch und bemerkten ihn ebenfalls nicht. Mit ihrer Lebendigkeit, ihrer Intelligenz, ihrer Intensität, ja sogar mit ihrer langsam zutage tretenden Unbeholfenheit hatten Sheila und Phyllis sein Herz vom ersten Augenblick an erobert. Mit einem Aufwallen von Freude dachte er: »Ich werde diese beiden für den Rest meines Lebens kennen! Wir werden alle zur selben Familie gehören!« Und dann dachte er mit einemmal an Herbie und Alan, die gestorben waren, weil sie den Sommer in Newark verbracht hatten, und dann an Sheila und Phyllis, die etwa genauso alt waren, aber aufblühten, weil sie den Sommer in Camp Indian Hill verbrachten. Dann fielen ihm Jake und Dave ein, die irgendwo in Frankreich gegen die Deutschen kämpften, und zugleich dachte er daran, dass er sich in diesem harmlosen Paradies voller fröhlicher Kinder befand. Er staunte über die Vielfalt des Lebens und über die Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber den Umständen. Und wo kommt Gott bei all dem ins Spiel? Warum setzt Er den einen mit einem Gewehr in das von Nazis besetzte Frankreich und den anderen mit einem Teller Makkaroni mit Käse in den Speisepavillon von Camp Indian Hill? Warum lässt Er das eine Kind aus Weequahic den Sommer über im von Polio heimgesuchten Newark und schickt das andere in das sonnenbeschienene, leuchtende Refugium der Poconos? Er war ein Mensch, der die Lösung all seiner Probleme bisher stets in Sorgfalt, Verantwortungsbewusstsein und harter Arbeit gefunden hatte, doch nun war ihm weitgehend unerklärlich, warum alles so geschah, wie es geschah.
»Bucky!« Die Zwillinge hatten ihn entdeckt und riefen im allgemeinen Lärm seinen Namen. Sie standen an ihrem Tisch und winkten. »Bucky! Du bist hier! Hurra!«
Er winkte zurück, und die Mädchen deuteten aufgeregt auf den anderen Tisch, wo ihre Schwester saß. Er nickte, zum Zeichen, dass er sie gesehen hatte, während die Zwillinge Marcia zuriefen: »Bucky ist hier!«
Marcia stand auf und sah sich um, und so erhob er sich ebenfalls. Jetzt endlich fiel ihr Blick auf ihn, und sie warf ihm eine Kusshand zu. Er war gerettet. Die Polio hatte ihn nicht besiegt.
Er verbrachte den Nachmittag am Badeplatz und sah zu, wie die Betreuer - siebzehnjährige Highschool-Schüler, die für die Einberufung noch nicht alt genug waren - mit den Jungen und Mädchen Schwimmen übten. Damit war er durch den Kurs für Schwimmen und Turmspringen, den er am Panzer College belegt hatte, gründlich vertraut. Es sah so aus, als hätte er ein gut geführtes Programm übernommen, und die Örtlichkeit erschien ihm perfekt: Alles hier wirkte sehr gepflegt, der Uferweg, die Stege und die Sprungtürme waren in ausgezeichnetem Zustand, und das Wasser war kristallklar. Ringsum ragten am Ufer des Sees steile, bewaldete Hügel auf. Die Hütten des Camps standen am Hang, die der Mädchen auf der einen Seite des Speisepavillons, die der Jungen auf der anderen. Einige hundert Meter vom Ufer entfernt befand sich eine bewaldete Insel, die wie ein langer Finger auf den Badeplatz zeigte; die schlanken Bäume, die dort wuchsen, sahen aus, als wäre ihre Rinde weiß. Dies war wohl die Insel, wo sie, wie Marcia gesagt hatte, ungestört sein würden.
Sie hatte ihm bei der Sekretärin in Mr. Blombacks Büro eine Nachricht hinterlassen. »Ich konnte meinen Augen kaum trauen, meinen zukünftigen Mann zu sehen. Ich habe bis um halb zehn Dienst. Wir treffen uns am Pavillon. Wie die Mädchen sagen: >Du bist so süß!< M.«
Als die letzten Schwimmstunden
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